Erster Artikel. Das Ärgernis ist ein minder rechtes Wort oder eine minder rechte That, die zum Verderben anderer Anlaß giebt.
a) Diese Definition ist falsch. Denn: I. Das Ärgernis ist eine Sünde. Diese aber ist nach Augustin (22. c. Faust. 27.) „etwas Begehrtes oder etwas Gesprochenes etc. gegen das Gesetz Gottes.“ Also fehlt in der Definition das „Gedachte“ oder „Begehrte“. II. Da unter den Tugendwerken das eine gerader und geregelter ist wie das andere, so scheint jenes „minder recht“ oder „minder gerade“ zu sein, was nicht an der Spitze des Gerechten steht, d. h. was nicht im höchsten Grade „recht“ ist. Ist also das Ärgernis etwas „minder recht“ Gesprochenes oder Gethaenes, so ist jedes Tugendwerk außer dem besten ein Ärgernis. III. „Anlaß“ oder „Gelegenheit“ ist keine Ursächlichkeit, die ihrem inneren Wesen nach etwas hervorbringt; sondern eine außen befindliche, nebensächliche, eine Ursache per accidens. Eine solche Ursächlichkeit aber darf nicht in eine Definition gesetzt werden, die doch das Wesen einer Sache umgreifen soll. IV. Jegliches Thun des anderen kann Gelegenheit oder Anlaß zum Verderben geben. Also wäre Alles ein Ärgernis. V. Gelegenheit zum Verderben wird dem Nächsten dann gegeben, wenn derselbe beleidigt oder machtlos wird. Neben solcher Beleidigung und Schwäche zählt aber der Apostel Röm. 14. noch das Ärgernis auf: „Gut ist es, kein Fleisch zu essen und keinen Wein zu trinken, wenn dein Bruder dadurch nicht beleidigt und nicht geärgert und nicht schwach wird.“ Also ist die obige Begriffsbestimmung nicht zulässig. Auf der anderen Seite sagt Hieronymus zu Matth. 15. (Scis quia): „Wenn wir lesen: wer auch immer Ärgernis giebt, so verstehen wir darunter, wenn ein Wort oder ein Thun dem Nächsten Anlaß zum Verderben giebt.“
b) Ich antworte, es komme vor, daß man auf dem körperlichen Wege bisweilen dem anderen ein Hindernis entgegenwirft, wodurch er, wenn er auf dasselbe stößt, zum Fallen vorbereitet wird. So nun wird jemand auch auf dem geistigen Wege durch das Wort oder die That eines anderen zum Verderben vorbereitet, insoweit letzterer durch seine Vorstellung oder Anleitung oder durch sein Beispiel ihn zur Sünde zieht; und dies nennt man im eigentlichen Sinne ein Ärgernis. Nichts aber kann seiner Natur nach zum Verderben vorbereiten d. h. zur Sünde, außer das, wo etwas in sittlicher Beziehung mangelhaft oder „minder recht“ ist; denn was vollkommen recht und gerade ist, kräftigt den Menschen gegen das Verderben und nicht führt es zum Falle. Deshalb ist obige Definition eine zulässige.
c) I. Der Gedanke an sich ist im Verborgenen, kann also nicht einen anderen zum Verderben vorbereiten; er kann kein Ärgernis sein. II. „Minder recht“ wird genannt, nicht was noch tugendhafter sein kann, sondern was einen positiven sittlichen Mangel hat. Dieser kann nun an und für sich bereits Sünde sein oder er kann den äußeren Schein der Sünde haben, wie wenn jemand am Mahle der Götzendiener teilnimmt. Denn letzteres ist an sich keine Sünde, „da das Götzenbild ja nichts ist;“ wenn jemand es in guter Absicht thut. Weil es aber den Schein des Übels hat, insoweit man da etwas dem Thun der Götzendiener Ähnliches vollbringt, so kann es anderen Gelegenheit zum Verderben geben. Und deshalb ermahnt der Apostel 1. Thess. 5.: „Von allem äußeren Schein der Sünde enthaltet euch.“ Deshalb steht hier „minder recht“; damit nicht nur darin inbegriffen seien die wirklichen Sünden, sondern auch das, was den äußeren Schein der Sünde hat. III. Nur der eigene Wille kann für den Menschen die hinreichend genügende Ursache für Sünde sein. Das Sprechen oder Thun eines anderen also kann nur unvollendeterweise zum eigenen Verderben führen. Und deshalb wird gesagt, nicht „Ursache der Sünde“, sondern „Anlaß oder Gelegenheit zur Sünde“. Und somit wird da eben mit Recht die äußere nebensachliche Ursächlichkeit genannt; denn das Ärgernis ist nicht anders Ursache der Sünde; — sie ist keine wahre, vollkommen hinreichende Ursache derselben. IV. Das Sprechen oder Thun eines anderen ist an und für sich, seiner inneren Natur nach, Ursache der Sünde, wenn jemand den anderen anleitet zur Sünde oder wenn sein Thun dem innersten Wesen nach ein solches ist, daß es andere zur Sünde reizt; wie wenn jemand öffentlich Sünde thut oder etwas, was Ähnlichkeit hat mit einer Sünde. Das ist nun im eigentlichen Sinne ein Ärgernis. Nebensächlicherweise ist etwas Ärgernis, wenn gegen die Absicht des thätigseienden oder des sprechenden und abgesehen durchaus von der natürlichen Beschaffenheit der Worte und der entsprechenden Handlungen jemand, der in seinem Innern in schlechter sittlicher Verfassung ist, Gelegenheit zur Sünde nimmt; wie wenn jemand auf die Güter anderer neidisch ist. In diesem Falle giebt der sprechende oder handelnde, der etwas an sich Gutes thut, keine Gelegenheit zur Sünde, soweit es auf ihn ankommt; der andere nimmt diese Gelegenheit. So sagt Paulus Röm. 7.: „Da die Gelegenheit durch die Sünde genommen worden war, hat diese durch das Gesetz in mir alle Begierlichkeit gewirkt.“ Das ist also „Ärgernis nehmen“; und so besteht ein Ärgernis im passiven, leidenden Sinne. Bisweilen nun wird Ärgernis gegeben und genommen; wenn nämlich auf die Anleitung des einen hin der andere sündigt. Bisweilen wird Ärgernis gegeben, aber nicht genommen; wenn auf die Anleitung des einen hin der andere nicht sündigt. Bisweilen wird Ärgernis nicht gegeben, aber genommen; wie oben. V. „Schwäche“ will sagen Bereitwilligkeit, um Ärgernis zu nehmen. „Beleidigung“ oder „Anstoß“ will bezeichnen den Unwillen in einem gegen den anderen, der sündigt, was manchmal ohne Sünde sein kann. „Ärgernis“ drückt die Anleitung selber zur Sünde aus.
