Siebenter Artikel. Das geistig Vollkommene soll man nicht unterlassen aus Furcht, Ärgernis zu geben.
a) Dies wird bestritten: I. Augustin (3. (contraep. Parmeniani cap. 2.) schreibt: „Wo die Gefahr eines Schisma droht, soll man der Bestrafung der Sünden sich enthalten.“ Letztere aber ist der Vollkommenheit der Gerechtigkeit entsprechend. II. Matth. 7, 6. heißt es: „Gebet das Heilige nicht den Hunden und streuet euere Perlen nicht vor Säuen aus, damit diese sich nicht umkehren und euch zerreißen.“ Also soll man deshalb sich enthalten die heilige Lehre vorzutragen aus Furcht, Ärgernis zu geben. III. Die brüderliche Zurechtweisung, etwas geistig Gutes also, muß manchmal wegfallen, um das Ärgernis anderer zu vermeiden, nach Augustin. (1. de civ. Dei 9.). IV. Hieronymus sagt zu Matth. 15, 12.: „Um nicht Ärgernis zu geben, muß man Alles unterlassen, was unterlassen werden kann, ausgenommen die dreifache Wahrheit des Lebens, der Gerechtigkeit, der Lehre.“ Also muß man bisweilen die Erfüllung der evangelischen Räte, das Almosengeben und Ähnliches unterlassen; was doch bedeutet, große geistige Güter beiseite lassen, damit man kein Ärgernis gebe. V. Um das Ärgernis des Nächsten zu vermeiden, muß man bisweilen eine läßliche Sünde begehen; wenn nämlich jemand durch eine läßliche Sünde die Todsünde des anderen verhindert. Denn der Mensch muß die Verdammnis des Nächsten verhindern, falls sein eigenes Heil keinen Schaden leidet, welch letzteres durch eine läßliche Sünde nicht gefährdet ist. Vermeiden aber eine läßliche Sünde ist etwas gering Vollkommenes. Also kann Letzteres unterlassen werden, damit man kein Ärgernis gebe. Auf der anderen Seite sagt Gregor (sup. Ezech. hom. 7.): „Entsteht um der Wahrheit willen ein Ärgernis, so ist es nützlicher, daß das Ärgernis entsteht als daß die Wahrheit verlassen wird.“ Das geistig Vollkommene aber gehört zur Wahrheit. Also soll man es nicht beiseite lassen, damit kein Ärgernis entstehe.
b) Ich antworte, die berührte Frage betreffe nicht das Ärgernisgeben, da dies immer „minder recht“ d. h. etwas Unvollkommenes ist. Nun ist, daß niemand Ärgernis nehme, bei dem geistigen Guten zu unterscheiden. Denn darunter giebt es Dinge, die man ohne schwere Sünde nicht unterlassen darf. Niemand aber soll schwer sündigen, damit er die schwere Sünde eines anderen hindere, da nach der Ordnung der heiligen Liebe ein jeder sein eigenes Seelenheil dem des Nächsten vorziehen muß. Also im Bereiche des zum Heile Notwendigen darf nichts aus Furcht, Ärgernis zu geben, unterlassen werden. Handelt es sich nicht um das zum Heile Notwendige, so geht das Ärgernis, welches man an geistig Gutem nimmt, manchmal aus Bosheit hervor; es werden nämlich Ärgernisse erregt, damit man das Gute hindere; und das ist „das Ärgernis der Phansäer“, welches diese an der Lehre des Herrn nahmen. Dieses Ärgernis ist nach Matth. 15. zu verachten. Bisweilen aber geht das Ärgernis aus Unkenntnis oder aus Schwäche hervor, es ist dies „das Ärgernis der Kleinen“. Und da ist das geistig Gute manchmal zu verbergen oder aufzuschieben, wo damit keine Gefahr für die Seele verbunden ist, bis man Rechenschaft von diesem Guten gegeben hat und so das Ärgernis schwindet. Hat man seine Gründe dargelegt und das Ärgernis bleibt trotzdem, so hat dasselbe zur Quelle mehr die Bosheit wie die Schwäche; und sonach ist in diesem Falle das Gute nicht beiseite zu lassen.
c) I. Strafen sind wie Medizin. So viel also entsprechen sie der Gerechtigkeit, als sie Heilmittel sind gegen die Sünde und diese dadurch gehindert wird. Ist es aber offenbar, daß aus der Vollziehung der Strafen mehr und schwerere Sünden folgen, dann ist die Vollziehung der Strafen nicht gerecht. Und davon spricht Augustin; wenn nämlich aus der Exkommunikation einzelner ein Schisma folgen würde. In diefem Falle entspräche die Verhängung der Exkommunikation nicht der Wahrheit der Gerechtigkeit. II. Die Wahrheit selber der Lehre gehört zum Notwendigen des Heiles; und deshalb darf man aus keinerlei Furcht vor Ärgernis etwas Falsches lehren. Die Thätigkeit oder Wirksamkeit aber der Lehre, die Belehrung also, wird unter die geistigen Almosen gerechnet und davon gilt, was über die Almosen gesagt worden; vgl. ad IV. III. Insoweit die bruderliche Zurechtweisung dem anderen zur Besserung gereicht, ist sie ein geistiges Gut; nimmt also der andere daran Ärgernis, so ist sie gar kein geistiges Gut. IV. In der Wahrheit des Lebens, der Lehre und der Gerechtigkeit ist nicht allein das zum Heile Notwendige enthalten, sondern auch das, was in mehr vollkommener Weise zum Heile führt, nach 1. Kor. 12.: „Eifert besseren Geistesgaben nach.“ Also auch die evangelischen Räte und die Werke der Barmherzigkeit sind nicht schlechthin beiseite zu lassen wegen des „Ärgernisses der Kleinen“; wenn man sie auch manchmal verbergen oder aufschieben kann. Hat man aber bereits die evangelischen Räte gelobt oder besteht eine Verpflichtung anderen beizustehen, dann handelt es sich da um das zum Heile Notwendige. V. Wäre eine läßliche Sünde erlaubt, um ein Ärgernis zu vermeiden, wie einige meinen, so wäre sie schon nicht mehr Sünde. Also das geht nicht. Es kann aber geschehen, daß ein Akt infolge eines Umstandes keine läßliche Sünde mehr ist, der das ohne diesen begleitenden Umstand wohl sein würde. So ist ein Scherzwort läßliche Sünde, wenn es ohne Nutzen gesagi wird. Sagt man es aber aus einer vernünftigen Ursache, so ist es eben kein unnützes Wort mehr und somit keine Sünde. Die läßliche Sünde bereitet zur Todsünde vor und schädigt so das Heil.
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