Erster Artikel. Es ist zulässig, daß Gebote gegeben werden, welche die heilige Liebe zum Gegenstande haben.
a) Diese Zulässigkeit wird bestritten: I. Die heilige Liebe giebt allen anderen Tugenden und deren entsprechenden Thätigkeiten Maß und Richtschnur. Maß und Richtschnur aber wird durch kein Gebot bestimmt; sonst ginge es ins Endlose. Also existieren über die heilige Liebe keine Gebote. II. Die heilige Liebe macht uns frei; denn „wo der Geist des Herrn (der die Liebe in uns ausgießt, Röm. 5.), da ist Freiheit.“ (2. Kor. 3.) Gebote aber sind gegen die Freiheit. III. Die heilige Liebe ist die hauptsächlichste unter allen Tugenden. Also müßten die sie betreffenden Gebote hauptsächliche, leitende Gebote und somit unter den zehn Geboten sein; was nicht der Fall ist. Auf der anderen Seite fordert Gott vom Menschen, er solle Ihn lieben. (Deut. 10.) Also fällt die heilige Liebe unter das Gebot.
b) Ich antworte, jedes Gebot schließe ein den Charakter einer Schuld. Insofern also ist etwas Gegenstand eines Gebotes, insoweit es den Charakter des Geschuldeten in sich enthält. Nun ist 1. etwas an und für sich geschuldet, auf Grund des inneren Wesens; und das ist der Zweck, der da an und für sich ein Gut ist. Es ist 2. etwas geschuldet auf Grund von etwas Anderem, weil es nämlich zum Zwecke dienlich ist. So z. B. ist es für den Arzt an und für sich eine Schuld, eine Verpflichtung, daß er heile; und auf Grund dessen ist es für ihn Pflicht, daß er eine Medizin gebe. Der Zweck nun des geistigen Lebens ist die Einheit mit Gott in der heiligen Liebe. Dazu steht als hingeordnet da Alles, was zum geistigen Leben gehört. Deshalb sagt der Apostel (1. Tim. 1.): „Der Zweck des Gebotes ist die Liebe, welche von reinem Herzen ausgeht und von einem guten Gewissen und von ungeheucheltem Glauben.“ Alle Tugenden dienen diesem Zwecke; nämlich daß sie entweder das Herz von Leidenschaften reinigen, oder daß das Gewissen gut sei als Richtschnur der Thätigkelten, oder daß man den rechten Glauben und die rechte Gottesverehrung habe. Und diese drei Dinge sind erforderlich, um Gott zu lieben. Denn ein unreines Herz neigt zum Irdischen anstatt zu Gott hin; ein böses Gewissen hat Furcht vor der gerechten Strafe und schreckt demnach zmück vor der Gerechtigkeit Gottes, will dieselbe nicht; ein geheuchelter Glaube trennt von der Wahrheit Gottes. Da nun überall das, was an und für sich, kraft seines inneren Wesens etwas ist, mehr an leitender Stelle steht, wie Jenes, was dies nur auf Grund von etwas Anderem, kraft Mitteilung ist; da nämlich der Zweck überall höher steht wie das bloß Zweckdienliche; — so betrifft das größte und an erster Stelle leitende Gebot die heilige Liebe.
c) I. Das Maß und die Richtschnur fällt nicht unter jene Gebote, welche auf die anderen Tugendwerke sich beziehen; z. B. ist vom vierten Gebote nicht geboten, daß man die Eltern ehre auf Grund und nach Maßgabe der heiligen Liebe. Der Akt der heiligen Liebe aber ist durch andere Gebote vorgeschrieben. II. Die Verpflichtung, die in einem Gebote liegt, ist nicht der Freiheit entgegengesetzt; außer für jenen, dessen Geist von dem abgewendet ist, was vorgeschrieben wird; wie wenn jemand aus bloßer Furcht die Gebote befolgt. Diese Ausnahme aber hat hier keine Stelle; denn das Gebot der heiligen Liebe kann man nur kraft des eigenen Willens erfüllen; und so widerstreitet es in keiner Weise der Freiheit. III. Alle die zehn Gebote beziehen sich wie auf ihren Zweck auf die Liebe Gottes und des Nächsten, sind sonach in allen eingeschlossen.
