Siebenter Artikel. Das Gebot der Nächstenliebe wird zukömmlicherweise gegeben.
a) Dies wird bestritten: I. Die Zuneigung der heiligen Liebe erstreckt sich auf alle Menschen, selbst auf die Feinde. Der Ausdruck „Nächste“ aber zeigt auf eine irgend welche besondere Verbindung. II. Nach Aristoteles (9 Ethic. 8.) hat das Freundschaftliche rücksichtlich des anderen seinen Grund in dem Freundschaftlichen rücksichtlich der eigenen Person. Das Princip oder der Grund steht aber immer höher wie das aus dem Princip Folgende. Also muß der Mensch sich selbst mehr lieben wie den Nächsten. III. Sich selbst liebt der Mensch kraft der Natur, was bei der Liebe zum Nächsten nicht der Fall ist. Also ist es nicht zulässig, zu sagen: „wie sich selbst.“ Auf der anderen Seite steht das Evangelium Matth. 22, 38.: „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst.“
b) Ich antworte, in diesem Gebote werde mit vollem Rechte der Grund für die Liebe zum Nächsten hervorgehoben und das Maß für dieselbe. Der Grund liegt im Ausdrucke „Nächster“. Deshalb nämlich sollen wir den Mitmenschen lieben, weil er uns nahe steht sowohl auf Grund des natürlichen göttlichen Bildes als auch auf Grund der Fähigkeit, Gott zu schauen. Und da kommt es nicht darauf an, ob „Bruder“ gesagt wird oder „Freund“ oder „Nächster“ (wie 1. Joh. 4., Lev. 19.); denn immer wird dieses „Nahestehen“ ausgedrückt. Das Maß der Liebe liegt im folgenden: „wie dich selbst“; nicht nämlich gleich sich selbst, sondern ähnlich wie er sich selbst liebt; und zwar 1. auf Grund des Zweckes, daß jemand den Nächsten und sich selbst wegen Gott liebt und so die Liebe eine heilige sei; — 3. auf Grund der Richtschnur und Regel für die Liebe, daß der eine Mensch mit dem anderen nur im Guten einig sei, nicht im Schlechten; wie er auch seinen eigenen Willen nur im Guten befriedigen soll, damit so die Liebe gerecht sei; — 3. auf Grund des wesentlichen Charakters der Liebe, daß der eine Mensch nämlich den anderen nicht liebe wegen seines eigenen Nutzens und Ergötzens, sondern daß er ihm Gutes wolle wie er sich selber Gutes will und so die Liebe eine wahre sei; sonst liebt er nicht wahrhaft den Nächsten, sondern sich selbst,
c) Damit beantwortet.
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