Achter Artikel. Die von der heiligen Liebe herrührende Ordnung ist ebenfalls geboten.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Wer ein Gebot überschreitet, thut ein Unrecht. Wenn jemand aber einen Nächsten liebt wie es vorgeschrieben ist und einen beliebigen anderen mehr als diesen, so thut er kein Unrecht; also keine Sünde. II. Was geboten ist, lehrt die Schrift. Eine solche Ordnung aber, wie sie in der heiligen Liebe herrschen soll, steht nirgends in der Schrift. Also ist sie nicht geboten. III. Die Ordnung schließt eine Unterscheidung ein. Unterschiedslos aber wird geboten: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ Auf der anderen Seite erzieht Gott durch seine Gebote zu dem, was Er durch die Gnade in uns macht, nach Jerem. 31.: „Mein Gesetz werde ich einprägen in ihre Herzen.“ Gott aber verursacht in uns die Ordnung in der heiligen Liebe, nach Kant. 2.: „Geordnet hat Er in mir die heilige Liebe.“ Also ist diese Ordnung geboten.
b) Ich antworte, daß das Maß oder die Weise, welche zum Wesenscharakter eines tugendhaften Werkes gehört, unter das Gebot fällt, welches sich auf das Tugendwerk richtet. Die Ordnung in der Liebe aber gehört zum Wesenscharakter der Tugend, da sie sich richtet nach dem Verhältnisse der Liebe zum Liebwerten. Also ist offenbar die Ordnung in der heiligen Liebe mitgeboten.
c) I. Der Mensch ist dem mehr zu Willen, den er liebt. Wenn er also weniger lieben würde jenen, den er mehr lieben müßte, wollte er dem mehr zu Willen sein, dem er weniger zu Willen sein müßte. Und so geschähe ein Unrecht jenem, den er müßte mehr lieben. II. Die heilige Schrift spricht ganz wohl die Ordnung in der heiligen Liebe aus: Denn Gott sollen wir „aus ganzem Herzen“ d. h. über Alles lieben; — und wenn wir den Nächsten lieben sollen wie uns selbst, so wird die Liebe zu sich selbst vorgezogen der Liebe zum Nächsten; — ebenso wenn „wir für den Nächsten das Leben lassen sollen“ (1. Joh. 3.), wird die Liebe zum Nächsten vorgezogen der Liebe zum eigenen Körper; — ähnlich „sollen wir Gutes thun, zumal den Glaubensgenossen“ (Gal. ult.) und nach I. Tim. 5. wird getadelt, „wer nicht zuvörderst Sorge hat für die Seinigen und zumal für seine Familienmitglieder,“ wonach wir unter den Nächsten die Verwandten und uns Nahestehenden in der Liebe vorziehen wüssen. III. Darin selber, daß gesagt wird: „Du sollst den Nächsten lieben,“ liegt ausgedrückt, wir sollen mehr lieben, die uns näher angehen. Nun ist zu handeln über die Gabe der Weisheit, welche der heiligen Liebe entspricht und über das dieser entgegengesetzte Laster.
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