Zweiter Artikel. Zwei Gebote der Liebe giebt es.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Gebote richten sich auf die Tugend. Es giebt aber nur eine Tugend der heiligen Liebe. II. Augustin (I. de doctr. christ. 22.) sagt: „Die heilige Liebe liebt im Nächsten einzig Gott allein.“ III. Die verschiedenen Sünden stehen entgegen den verschiedenen Geboten. Wer aber Gott liebt und den Nächsten nicht, der sündigt nicht, nach Luk. 14.: „Wer zu mir kommt und haßt nicht seinen Vater und seine Mutter, kann nicht mein Schüler sein.“ Also giebt es nur ein Gebot der Liebe; nämlich das, Gott zu lieben. IV. Röm. 13. heißt es: „Wer den Nächsten liebt, hat das Gesetz erfüllt.“ Also sind damit alle Gebote erfüllt. Auf der anderen Seite heißt es 1. Joh. 4.: „Dieses Gebot haben wir von Gott, daß, wer da Gott liebt, auch seinen Bruder liebt.“
b) Ich antworte, so verhalten sich (l., II. Kap. 91. Art. 3.) die Gebote im Gesetze wie die verschiedenen gefolgerten Sätze in den beschaulichen, spekulativen Wissenschaften; wo diese Folgerungen enthalten sind in den ersten Principien als den Grundwahrheiten. Wer also vollkommen erschöpfend die letzteren durchdränge, der hätte nicht notwendig, daß ihm die Folgerungen einzeln vorgelegt würden. Nur weil nicht alle die nötige Verstandeskraft haben, die ersten Principien erschöpfend zu begreifen, bedarf es der Vorlage eigener Schlußsätze. Im Bereiche des Handelns nun steht der Zweck an der Stelle jener ersten Principien. Da nun die Liebe zu Gott der Zweck für die Nächstenliebe ist, so mußte ein eigenes Gebot der Nächstenliebe gegeben werden für die schwachen, die nicht sogleich durchdringen, was im obersten Princip enthalten ist.
c) I. Die heilige Liebe hat zwei Thätigkeiten, von denen die eine auf Gott, die andere auf den Nächsten geht. II. Gott wird im Nächsten geliebt wie der Zweck im Zweckdienlichen. III. Das Zweckdienliche hat den Charakter des Guten auf Grund des Zweckes; und so ist es etwas Übles, wenn man von ihm abweicht. IV. In der Nächstenliebe ist eingeschlossen die Liebe zu Gott wie im Zweckdienlichen enthalten ist der Zweck. Ein eigenes Gebot war erfordert aus dem besagten Grunde.
