Sechster Artikel. Das Gebot der Liebe Gottes kann nicht auf Erden seine Erfüllung finden.
a) Das Gegenteil wird dargethan: I. Hieronymus sagt (ep. ad Dam.): „Verflucht, wer meint, Gott habe Unmögliches vorgeschrieben.“ Also kann das Gebot der Liebe auf Erden erfüllt werden. II. Die Sünde ist eine Überschreitung des göttlichen Gesetzes. (Ambrosius de parad. 8.) Wenn also das Gebot der Liebe Gottes auf Erden nicht erfüllt werden kann, so kann niemand ohne Todsünde sein. Das ist aber gegen den Apostel, der da sagt (1. Kor. 1.): „Gott wird euch befestigen, daß ihr bis zum Ende ohne schwere Sünde seiet;“ und 1. Tim. 3.: „Sie sollen dienen, keine Todsünde im Innern.“ III. Die Gebote sollen Richtschnur sein für uns auf dem Wege des Heiles, nach Ps. 18.: „Das Gebot des Herrn ist lichtvoll, erleuchtend die Augen.“ Dies wäre aber unnütz, wenn ein Gebot Unmögliches vorschriebe. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de perf. justitiae 8.): „In der Fülle der Liebe im ewigen Heim wird jenes Gebot erfüllt werden: Du sollst Gott lieben etc. Denn so lange noch in uns sich findet etwas von der fleischlichen Begierlichkeit, was durch die Enthaltsamkeit gezügelt wird, wird Gott nicht durch und durch über Alles geliebt.“
b) Ich antworte, man könne ein Gebot vollkommen erfüllen, wenn man nämlich zum Zwecke gelangt, den der befehlende beabsichtigt; oder unvollkommen, wenn man zwar nicht am Zwecke bereits angelangt ist, aber doch die Beziehung zum Zwecke bewahrt. So erfüllt jener Soldat das Gebot des Führers zu kämpfen vollkommen, der den Feind wirklich besiegt; unvollkommen jener, der zwar noch nicht gesiegt hat, jedoch nach den Kriegsregeln kämpft. Gott nun will bei diesem Gebote, daß der Mensch ganz und gar mit Ihm in Liebe vereinigt sei; und das wird stattfinden, wann „Gott Alles in Allem sein wird.“ (1. Kor. 15.) Auf Erden aber wird danach das Gebot der Liebe unvollkommen erfüllt und zwar desto vollkommener, je mehr man sich durch eine gewisse Ähnlichkeit nähert der Vollendung im Himmel.
c) I. Unvollkommen kann das Gebot der Liebe hier auf Erden erfüllt werden; darauf nur bezieht sich der Einwurf. II. Wenn der Soldat gemäß den Kriegsregeln kämpft, aber nicht siegt so trägt er keine Schuld und verdient keine Strafe. So auch sündigt nicht schwer, der auf Erden dieses Gebot nicht vollkommen erfüllt; aber auch keine Todsünde begeht. III. Augustin antwortet (l. c.): „Warum also wird doch schließlich diese Vollendung dem Menschen vorgeschrieben, die in diesem Leben niemand besitzen kann? Man würde nicht recht laufen, wenn man nicht wüßte, wohin es gehe. Wie sollte man dies aber wissen, wenn die Gebote nicht den Weg zeigten?“
