Erster Artikel. Das Gedächtnis ist ein Teil der Klugheit.
a) Dies wird geleugnet. Denn: I. Das Gedächtnis ist im sinnlichen, die Klugheit im vernünftigen Teile. II. Die Klugheit erlangt man durch Übung; das Gedächtnis kommt von der Natur. III. Das Gedächtnis ist auf das Vergangene gerichtet; die Klugheit auf die Zukunft. Auf der anderen Seite zählt Cicero das Gedächtnis als einen Teil der Klugheit auf.
b) Ich antworte; im menschlichen Thätigsein kann die Klugheit nicht ausgehen von dem, was notwendigerweise, aus sich heraus, oder schlechthin wahr ist: sondern von dem, was für gewöhnlich geschieht. Was nun in dieser Weise wahr ist, das kann man einzig durch Erfahrung lernen. Erfahrung aber entsteht aus Mehrerem, dessen man sich erinnert. Also gehört das Gedächtnis zur Klugheit.
c) I. Die Klugheit wendet die allgemeine Kenntnis an auf das Einzelne und Besondere, worauf an und für sich der Sinn sich richtet. Vieles also, was zum sinnlichen Teile gehört, wird erfordert für die Klugheit; und darunter ist das Gedächtnis. II. Wie die Anlage zur Klugheit von der Natur kommt, durch Übung und Betriebsamkeit aber vervollkommnet wird; so wird auch das gute Gedächtnis nicht der Natur allein gedankt, sondern zum großen Teile der Übung. Durch viererlei aber macht der Mensch Fortschritte im Gedächtnisse: 1. dadurch daß er von dem, was er behalten will, einige Ähnlichkeiten oder Bilder in sich aufnimmt, die jedoch nicht ganz gewöhnlich sein müssen; weshalb wir dessen, was wir als Kind gesehen, uns in höherem Grade erinnern, denn der Geist wird da durch die sichtbare Ähnlichkeit mehr festgehalten; — 2. dadurch daß der Mensch in dem, was er behalten will, eine Ordnung macht, vermittelst deren er leichter vom Einen zum Anderen gelangt; — 3. dadurch daß der Mensch Sorge und Liebe zu dem hat, was er behalten will; denn je tiefer etwas dem Geiste eingeprägt ist, desto länger bleibt es da; „die Sorge erhält unversehrt die Figuren der Bilder,“ sagt Cicero (lib. 3. ad Herem.); 4. dadurch daß wir oft über das nachdenken, was wir behalten wollen. III. In dem was vergangen ist sollen wir einen Ausgangspunkt haben für das Zukünftige; und somit ist das Andenken an das Vergangene notwendig, um gut uns zu beraten rücksichtlich des Zukünftigen.
