Sechster Artikel. Niemals ist es erlaubt, einen Unschuldigen zu töten.
a) Dies scheint bisweilen erlaubt. Denn:I. Keine Sünde dient dazu, die Furcht Gottes offenbar zu machen; vielmehr „treibt aus die Furcht Gottes die Sünde.“ (Ekkli. 1.) Abraham aber wird gelobt, daß er Gott fürchtete, weil er seinen unschuldigen Sohn töten wollte. Also kann manchmal ein unschuldiger getötet werden.II. Bei den Sünden gegen den Nächsten kommt es darauf an, wie groß der diesem angethaene Schaden ist. Nun schadet man durch die Tötung mehr dem Sünder wie dem unschuldigen, der aus dem Elende dieses Lebens zur ewigen Glückseligkeit gelangt. Also kann man mit noch größerem Rechte einen unschuldigen töten wie einen Verbrecher. III. Was gemäß der Ordnung der Gerechtigkeit geschieht, ist keine Sünde. Bisweilen ist aber der Richter gezwungen, jemanden zu verurteilen, der, wie er persönlich sehr wohl weiß, unschuldig ist, der aber durch falsche Zeugen eines Verbrechens überführt worden. In dem nämlichen Falle ist der Henker, der dem Richter gehorcht; trotzdem er weiß, der hinzurichtende sei unschuldig. Also steht es bisweilen frei, einen unschuldigen zu töten. Auf der anderen Seite heißt es Exod. 23.: „Den unschuldigen und gerechten sollst du nicht töten.“
b) Ich antworte, einen Menschen an sich betrachtet dürfe niemand töten; denn auch im Verbrecher müssen wir die Natur lieben, welche Gott gemacht und die durch die Tötung verdorben wird. Die Tötung des Verbrechers wird, wie gesagt, nur erlaubt mit Rücksicht auf das Gemeinbeste, welches unter dem Verbrechen leidet. Das Leben der gerechten aber dient dem Gemeinbesten und befördert es. Also darf man sie in keiner Weise töten.
c) I. Auf Gottes Anordnung hin sterben gerechte und ungerechte. Wer also auf die Anordnung Gottes hin einen unschuldigen tötet, der sündigt nicht; ebensowenig wie Gott, dessen Befehl er ausführt. Er zeigt vielmehr, daß er Gott fürchte, weil er Ihm gehorcht. II. Bei der Beurteilung der Schwere einer Sünde muß man erwägen das, was der Sünde an sich, von innen aus, d. h. infolge der Absicht des Sünders anhaftet; und das was von außen zu ihr hinzutritt; das per se muß man unterscheiden von dem per accidens. Danach also sündigt jemand an und für sich schwerer, wenn er einen unschuldigen als wenn er einen Verbrecher tötet. Denn er schadet 1. einem, den er auf Grund eben von dessen Unschuld mehr lieben müßte; und so ist seine Sünde mehr gegen die heilige Liebe gerichtet; — 2. er thut unrecht jenem, der es am wenigsten verdient hat; und so verletzt seine Sünde in höherem Grade die Gerechtigkeit; — 3. er beraubt das Gemeinbeste eines höheren Gutes und verachtet mehr Gott, nach Luk. 10.: „Wer euch verachtet, der verachtet mich.“ Daß aber der gerechte durch die Sünde zur Herrlichkeit gelangt, das ist etwas Äußerliches für die betreffende Sünde. III. Weiß der Richter die Unschuld des angeklagten, so muß er zuvörderst sorgsamer die Zeugen prüfen, damit er Gelegenheit finde, ihn zu befreien; wie dies Daniel that. Geht das nicht an, so muß er den angeklagten einem höheren Richter überlassen. Geht das auch nicht an, so muß er nach den angegebenen Zeugnissen urteilen; und dann tötet nicht er, sondern die falschen Zeugen sind schuldig. Der Henker aber darf nicht gehorchen, wenn der Urteilsspruch einen unerträglichen Irrtum enthält; sonst würden die Henker entschuldigt, welche die Märtyrer umbrachten. Enthält jedoch der Urteilsspruch keinen offenbaren Irrtum, so muß er gehorchen und dann tötet nicht er den unschuldigen, sondern der Richter.
