Erster Artikel. Die Mäßigkeit ist eine Tugend.
a) Dem steht entgegen: I. Keine Tugend widersetzt sich der natürlichen Neigung. Dies thut aber die Mäßigkeit; indem sie von den Ergötzungen abzieht, zu denen die Natur antreibt. Also ist sie keine Tugend. II. Die Tugenden sind miteinander verbunden. Viele aber sind mäßig, welche geizig oder furchtsam sind. Also haben sie keine Tugend der Mäßigkeit; sonst hätten sie auch die anderen. III. Jeder Tugend entspricht eine Gabe des heiligen Geistes, was bei der Mäßigkeit nicht der Fall ist. Auf der anderen Seite nennt Augustin (6 musicae 15.) die Müßigkeit eine Tugend.
b) Ich antworte, die Tugend neige ihrem Wesenscharakter nach zum Guten hin. Das dem Menschen entsprechende Gut aber besteht darin, gemäß der Vernunft zu sein, nach Dionnsius. (4. de div. nom.) Da nun die Mäßigkeit offenbar zu dem hinneigt, was gemäß der Vernunft ist, denn bereits ihr Name besagt das von der Vernunft anzulegende Maß; so ist die Mäßigkeit eine Tugend.
c) I. Die Natur neigt zu dem hin, was einem jeden zukömmlich ist. Dem Menschen also ist es von Natur zukömmlich, nach einem Ergötzen zu streben. Nun aber hat der Mensch von Natur Vernunft; und somit kommt es ihm von Natur zu, gemäß der Vernunft nach Ergötzen zu streben. Davon also zieht die Mäßigkeit nicht ab, sondern nur vom Vernunftwidrigen; und somit ist sie durchaus der natürlichen Neigung angemessen. II. Die Mäßigkeit, insoweit sie den vollen Wesenscharakter einer Tugend hat, ist nicht ohne die Klugheit; und dieser entbehren die lasterhaften. Wer also anderer Tugenden ermangelt, sondern vielmehr die entgegengesetzten Laster hat, der kann wohl einzelne Handlungen vollbringen, welche der Mäßigkeit entsprechen; aber er hat nicht die Tugend der Mäßigkeit, sondern thut dies infolge einer gewissen natürlichen Anlage, wie gewisse unvollkommene Tugenden mit der Natur gegeben sind (I., II. Kap. 63, Art. 1) oder infolge einer angenommenen Gewohnheit, welche ohne die Klugheit nicht .wirklich tugendhaft ist. (I., II. Kap. 58, Art. 4; Kap. 65, Art. 1.) III. Der Mäßigkeit entspricht die Gabe der Furcht, womit jemand sein Fleisch vor unangemessenen Ergötzlichkeiten zurückschreckt, nach Ps. 118.: „Durchbohre mit Deiner Furcht mein Fleisch.“ Die Gabe der Furcht nun entspricht der Tugend der Hoffnung, insoweit sie an leitender Stelle auf Gott sich richtet (vgl. oben); und dann kann sie sich auf Alles richten, wovor der Mensch flieht, um die Beleidigung Gottes zu vermeiden. Und da nun der Mensch im höchsten Grade der Furcht Gottes bedarf, um das zu fliehen, was alle am meisten anlockt, worauf die Mäßigkeit sich erstreckt; so kommt der Mäßigkeit die Gabe der Furcht zu.
