Zweiter Artikel. Die Mäßigkeit ist eine eigene besondere Tugend.
a) Dem ist Folgendes zuwider: I. Augustin schreibt (de morib. Eccl. 15.): „Sache der Mäßigkeit ist es, sich vollständig und unverderbt Gott darzubieten.“ Aber das kommt jeder Tugend zu. II. Nach Ambrosius (1. de offic. 43.) „kommt bei der Mäßigkeit im höchsten Grade die Ruhe der Seele in Betracht;“ was wiederum auf jede Tugend sich bezieht. III. Cicero (1. de offic.) sagt: „Das Anständige kann vom Ehrbaren nicht geschieden werden; denn Alles was gerecht ist, das ist anständig.“ Das Anständige aber wird vornehmlich von der Mäßigkeit betrachtet. Also ist die Mäßigkeit eine Eigenheit jeder Tugend. Auf der anderen Seite bezeichnet Aristoteles die Mäßigkeit als eine eigene Tugend.
b) Ich antworte, nach menschlichem Brauche werden gewisse weit umfassende oder allgemeine Ausdrücke auf das beschränkt, was in solcher umfassenden Allgemeinheit eine bevorzugte Stelle hat; wie z. B. der Name „urbs“ ohne weiteren Zusatz für Rom gilt. Wird also der Name „Mäßigkeit“ in seiner Allgemeinheit betrachtet, so bezeichnet er ein gewisses Maßhalten, welches in den menschlichen Leidenschaften und Thätigkeiten von der Vernunft her ausgeht; und so ist die „Mäßigkeit“ gemeinsam einer jeden Tugend. In dieser Bezeichnungsweise besagt „Mäßigkeit“ ein Zurückziehen von dem, was gegen die Vernunft anlockt; „Stärke“ aber drückt aus ein Angreifen oder ein Aushalten dessen, weswegen der Mensch von dem der Vernunft entsprechenden Guten ablassen soll. Wird aber der Ausdruck „Mäßigkeit“ in beschränkter Weise genommen, so bezeichnet er eine besondere Tugend, kraft deren nämlich der Mensch, das Begehren nach dem zügelt, was im höchsten Grade den Menschen anlockt. Dies ist also der besondere Gegenstand der Mäßigkeit.
c) I. Das Begehren des Menschen wird am meisten verderbt durch das, wodurch der Mensch angelockt wird, um von der Regel der Vernunft abzuweichen. Und wie der Name „Mäßigkeit“ gemäß seiner allgemeinem Bezeichnung genommen werden kann und gemäß seiner beschränkten Bezeichnung, so kann dies auch mit dem Ausdrucke Unverderbtheit, Unversehrtheit geschehen. II. Worauf die Mäßigkeit sich richtet, das lockt deshalb den Menschen im höchsten Grade an, weil es zur Natur des Menschen gehört. Und deshalb wird die Seelenruhe in besonderer Weise der Mäßigkeit zugeschrieben; obgleich sie gemeinhin allen Tugenden gebührt. III. Das Anständige, Schöne kommt wohl jeder Tugend zu, in besonderer Weise aber der Mäßigkeit: 1. nach der allgemeinen Bezeichnung der Mäßigkeit, wonach sie ein Maßhalten ist; im Maße aber oder im richtig abgemessenen Verhältnisse besteht der Wesenscharakter der Schönheit (4. de div. nom.), nach Dionysius; — 2. mit Rücksicht auf dasjenige, dem die Mäßigkeit die Zügel anlegt; denn es ist dies das Niedrigste im Menschen, von woher der Mensch im höchsten Grade beschmutzt werden kann, so daß der Mäßigkeit die Schönheit oder das Wohlanständige zugeschrieben wird, weil sie diesen Schmutz entfernt. Ebenso verhält es sich mit dem Ehrbaren; denn „ehrbar wird gesagt gewissermaßen wie im Zustande der Ehre befindlich, wo nichts Schmutziges, nichts Schimpfliches sich findet,“ nach Isidor. (10 Etymol. H.) Die Mäßigkeit aber entfernt die schmutzigsten Laster.
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