Achter Artikel Die Mäßigkeit ist nicht die größte Tugend.
a) Dagegen spricht Folgendes: I. Ambrosius sagt (1. de offic. 43.): „Bei der Mäßigkeit wird am meisten die Sorge um das Ehrbare, Wohlanständige gepflegt.“ Die Tugend ist aber in selbem Grade lobwert, als sie die Ehrbarkeit fördert. II. Schwerer ist es, die Begierden zu zügeln wie nach außen hin thätig sein. Also ist die Mäßigkeit, welche das Erste thut, eine höhere Tugend wie die Gerechtigkeit, welche die Thätigkeiten regelt. III. Die Mäßigkeit gebraucht man weit öfter und weit allgemeiner wie die Stärke oder jede andere Tugend. Also ist sie die erste Tugend. Auf der anderen Seite sagt Aristoteles (1. Met. 9.): „Im höchsten Grade sind Tugenden jene, welche im höchsten Grade nützlich sind; und deshalb ehren wir am meisten die gerechten und die starken.“
b) Ich antworte, das Gemeinbeste stehe über dem Privatbesten einer einzelnen Person. Die Gerechtigkeit aber und die Stärke beziehen sich mehr auf das Gemeinbeste wie die Mäßigkeit. Denn die Gerechtigkeit regelt die Beziehungen des einen zum anderen, die Stärke aber zeigt sich am meisten im Kriege für das Vaterland; während die Mäßigkeit dagegen nur die Begierlichkeiten und Ergötzlichkeiten im Bereiche dessen regelt, was sich auf den. Menschen selbst bezieht. Also steht die Mäßigkeit unter den Tugenden der Stärke und der Gerechtigkeit; diese aber stehen unter der Klugheit und den theologischen Tugenden.
c) I. Ehrbarkeit und Anstand werden nicht auf Grund des der Mäßigkeit eigentümlichen Guten dieser in besonderer Weise zugeschrieben; sondern auf Grund der Niedrigkeit des gegenüberstehenden Übels, von dem die Mäßigkeit abzieht, insoweit sie die uns und den Tieren gemeinsamen Ergötzungen regelt. II. Die Würde der Tugend wird mehr bemessen nach dem Guten, worauf sie gerichtet ist, worin die Gerechtigkeit den Vorrang hat; wie nach dem Schweren, worin die Mäßigkeit voransteht. III. Die Allgemeinheit, welche mit einem Gemeinwesen verbunden ist, trägt mehr zum Vorrange einer Tugend bei; wie die Allgemeinheit, wonach etwas häufiger vorkommt. Mit Rücksicht auf diesen letzten Umstand freilich kommt die Mäßigkeit vor der Gerechtigkeit und der Stärke.
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