Fünfter Artikel. Ein Bischof darf wegen einer zeitlichen Verfolgung seine Herde verlassen.
a) Dies scheint nicht erlaubt zu sein. Denn: I. Joh. 20. sagt der Herr, „wer den Wolf kommen sieht und seine Schäflein verläßt und flieht, sei kein wahrer Hirt, sondern ein Söldling,“ wozu Gregor (hom. 14. in Evgl.) bemerkt: „Der Wolf kommt an die Herde heran, wenn irgend ein Ruchloser und Räuber die demütigen Gläubigen unterdrückt.“ Also darf bei zeitlicher Verfolgung der Bischof nicht die Herde verlassen, wenn er kein Lohnknecht, sondern ein Hirte sein will. II. Prov. 6. heißt es: „Mein Sohn, wenn du für einen Freund gut gesagt, hast du deine Hand einem Fremden verbürgt… Laufe also, eile und wecke auf deinen Freund.“ Dazu erklärt Gregor (Past. part. 3. cap. 1.): „Für einen Freund gutsagen bedeutet, für die Seele eines anderen in der Gefahr einstehen. Wer aber auch immer anderen als ein Muster für deren Leben vorgestellt wird, der wird ermahnt, daß er nicht nur selber wache, sondern daß er auch den Nächsten aufwecke.“ Das ist aber unmöglich, wenn er nicht körperlicherweise zugegen ist. III. Der Vollkommenheit des bischöflichen Standes entspricht es, daß der Bischof für die Mitmenschen Sorge trägt. Wer aber in einem Stande der Vollkommenheit lebt, darf nicht ganz und gar aufgeben, wozu dieser Stand verpflichtet. Also dürfte ein Bischof nur dann etwa zur Zeit der Verfolgung seinen Posten verlassen, wenn er den Werken der Vollkommenheit in einem Kloster sich hingeben will. Auf der anderen Seite heißt es Matth. 10.: „Wenn sie euch (die Apostel, deren Nachfolger die Bifchöfe sind) in einer Stadt verfolgen, flieht in eine andere.“
b) Ich antworte, jede Verpflichtung werde gemäß dem vorhandenen Zwecke abgemessen. Der Zweck nun des Bischofsamtes ist die Sorge für das Seelenheil der Mitmenschen. Wo also dieses Seelenheil es erfordert, darf der Hirt weder wegen eines zeitlichen Vorteils noch wegen persönlicher Gefahr, die etwa droht, seiner Herde die persönliche Gegenwart entziehen, da er sogar sein Leben einsetzen muß für seine Schafe. Wird jedoch in der Abwesenheit des Hirten genügend für das Wohl der Herde gesorgt, so darf, wenn der ihm anvertrauten Herde ein zeitlicher Nachteil droht oder seine eigene Person in Gefahr ist, er die Herde verlassen. Deshalb sagt Augustin (ep. 228. ad Honoratum): „Es mögen von einer Stadt in die andere die Knechte Christi fliehen, wenn einer von ihnen insbesondere von den Verfolgern gesucht wird; damit die betreffende Kirche nicht die anderen verliere, die man nicht in dieser Weise sucht. Droht aber allen eine gemeinsame Gefahr, so dürfen jene, welche der anderen bedürfen, nicht verlassen werden von denen, welcher sie bedürfen.“ Denn „ist es bereits verderblich, wenn bei vollständiger Meeresruhe der Steuermann das Schiff verläßt, um wie viel mehr, wenn dies mitten in der Sturmgefahr geschieht.“ (7 Qq. 1. cap. Sciscitaris von Papst Nikolaus I.)
c) I. Jener ist ein Lohnknecht, der seinem zeitlichen Vorteile das Wohl der ihm anvertrauten Herde opfert. Deshalb sagt Gregor (l. c.): „Aufrecht stehen bleiben mitten in der Gefahr, welche den Schafen droht, kann jener Hirte nicht, der denselben vorsteht nicht um deren Nutzen, sondern um seines eigenen Vorteils willen; und aus diesem Grunde vor der Gefahr zittert, damit er nicht verliere das, was er liebt.“ Wer aber, ohne daß ein Nachteil damit für die Herde verbunden sei, um die Gefahr zu meiden, die Herde verläßt, der flieht nicht wie ein Lohnknecht. II. Wer für einen Freund gutgesagt und selber seiner Verpflichtung nicht nachkommen kann, für den genügt es, wenn er es durch einen anderen thut. Wenn also wegen eines dazwischen getretenen Hindernisses ein Bischof nicht persönlich für seine Herde forgen kann, dann genügt es, wenn er es durch einen anderen thut. III. Wer zur bischöflichen Würde zugelassen wird, ist dem Stande der Vollkommenheit verpflichtet gemäß einer gewissen bestimmten Art der Vollkommenheit. Entsteht nach dieser Seite hin ein Hindernis, so ist er zu einer anderen Art Vollkommenheit nicht gehalten und somit hat er nicht die Pflicht, in den Ordensstand einzutreten. Er findet sich aber in der Notwendigkeit, stets bereitwillig zu sein, daß er für das Wohl der Nächsten sorge, sobald sich Gelegenheit bietet oder ein Bedürfnis geltend macht.
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