Zehnter Artikel. Die Einigung der beiden Naturen in Christo und die Gnade.
a) Diese Einigung ist nicht hergestellt durch die Gnade. Denn: I. Die Gnade ist eine zum bereits bestehenden Wesen hinzutretende Zuthat, ein accidens. Die Menschwerdung ist aber nicht eine solche, von dergleichen Zuthaten ausgehende Einigung (Art. 6.). Also ist sie nicht durch die Gnade bewirkt. II. Träger oder Subjekt der Gnade ist die Seele. „In Christo aber wohnt die Fülle der Gottheit in körperlicher Weise,“ nach Kol. 2. III. Jeder heilige Mensch wird Gott verbunden durch die Gnade. Also würde Christus nicht in anderer Weise „Gott“ genannt werden wie jeder heilige, wenn die Menschwerdung durch die Gnade hergestellt würde. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de praed. Sanct. 15.): „Durch die gleiche Gnade wird vom Beginne seines Glaubens an jeglicher Mensch Christ, durch welche jener Mensch von seinem Beginne an geworden ist Christus.“ Jener Mensch aber ist Christus geworden durch die Einigung mit der göttlichen Natur. Also geschieht diese Einigung durch die Gnade.
b) Ich antworte, der Wille Gottes selber werde 1. Gnade genannt, weil er umsonst etwas giebt; und 2. werde so genannt die von freien Stücken, ohne Entgelt verliehene Gabe Gottes. Nun bedarf die menschliche Natur dazu des guten freien Willens Gottes, daß sie erhoben werde zu Gott; da dies über die Kraft der Natur hinausgeht. Es wird aber in doppelter Weise die menschliche Natur zu Gott erhoben:
a) vermittelst der Thätigkeit, kraft deren die heiligen Gott erkennen und lieben; —
b) durch das Sein der Person, was Christo allein eigentümlich ist, in welchem die menschliche Natur angenommen worden ist, damit sie getragen sei von der Person des Sohnes Gottes. Offenbar nun wird behufs der Vollendung der Thätigkeit erfordert, daß das betreffende Vermögen vervollkommnet sei durch einen Zustand; daß aber die Natur ihr Sein hat in ihrem Fürsichbestehen, im suppositum, das geschieht nicht vermittelst eines Zustandes. Wird also Gnade genommen für den Willen Gottes, der von freien Stücken jemandem sein Wohlgefallen schenkt; — so ist die Einigung der Menschwerdung geschehen durch die Gnade, wie auch dasselbe der Fall ist bei der Einigung der heiligen mit Gott durch Erkenntnis und Liebe. Wird aber Gnade genommen als die aus freien Stücken geschenkte Gabe Gottes, so kann wohl dies selbst, daß die menschliche Natur mit der göttlichen vereinigt ist, gewissermaßen als eine Gnade bezeichnet werden, insoweit dieses ohne etwaige vorhergehende Verdienste geschehen ist. Nicht aber kann die Rede sein von einem Zustande der heiligmachenden Gnade, durch dessen Vermittlung solche Einigung sich vollzogen hätte.
c) I. Die Gnade als hinzutretender Zustand ist eine gewisse Ähnlichkeit mit Gott, die dem Menschen mitgeteilt worden. Durch die Menschwerdung aber wurde keine eigene Ähnlichkeit mit der göttlichen Natur der menschlichen mitgeteilt; sondern sie ward verbunden in der Person des Sohnes mit dieser göttlichen Natur. Etwas Größeres aber ist die Sache selbst wie eine Ähnlichkeit mit derselben. II. Der Zustand der heiligmachenden Gnade ist allein in der Seele; aber geeint werden mit der göttlichen Person, diese Gnade geht die ganze menschliche Natur, Leib und Seele, an. Und danach ist das angeführte Wort Pauli zu verstehen; denn die göttliche Natur ist nicht nur mit der Seele verbunden worden, sondern auch mit dem Körper. Zudem kann dies „körperlicherweise“ (corporaliter) verstanden werden in dem Sinne, daß die Gottheit nicht schattenmäßig da innewohnte wie in den Sakramenten des Alten Bundes; von denen gesagt wird, sie seien der Schatten der zukünftigen Dinge, der Körper aber sei Christus, insoweit also der Körper gegenübergestellt wird seinem Schatten. Auch sagen manche, die Gottheit habe in Christo körperlicherweise innegewohnt, sei zu verstehen, sie sei gemäß den drei Dimensionen, die der Körper hat, da gewesen; nämlich: 1. durch ihre Wesenheit, Gegenwart und Macht, wie in allen übrigen Kreaturen; 2. durch die heiligmachende Gnade, wie in den übrigen heiligen; 3. durch die persönliche Einigung, was Christo allein eignet. III. Damit beantwortet.
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