Fünfter Artikel. Die Seligkeit besteht in der Thätigkeit der beschaulichen (spekulativen) Vernunft.
a) Dementgegen scheint die Seligkeit in der Thätigkeit der auf das thätige Leben gerichteten, also der praktischen Vernunft zu bestehen. Denn: I. Der letzte Endzweck jeder Kreatur besteht in der Ähnlichkeit mit Gott. Gott aber ist der Mensch mehr ähnlich auf Grund der auf das Wirken gerichteten Vernunft wie auf Grund der rein beschaulichen und betrachtenden. Denn die erstgenannte Thätigkeit bewirkt wie die des Künstlers das, was sie erkennt, ist somit wirkender Grund der verstandenen Dinge; die letztere aber empfängt von den erkannten Dingen, was sie betrachtet. II. Die Seligkeit ist das vollendete Gut des Menschen. Die praktisch thätige Vernunft aber hat mehr Beziehung zum Guten wie die rein beschauliche, die so recht eigentlich die Wahrheit als Gegenstand hat. Deshalb werden auch die Menschen gemäß der Vollendung ihrer praktisch thätigen Vernunft als „gut“ bezeichnet; gemäß der Vollendung ihrer beschaulichen Vernunft aber nur als „weise“ oder „verständig“. In der erstgenannten also besteht die Seligkeit. III. Die Seligkeit ist ein Gut des Menschen selber. Die spekulative Vernunft aber ist mehr auf das gerichtet, was außerhalb des Menschen ist, während die praktisch thätige Vernunft die eigenen Thätigkeiten und Leidenschaften des Menschen regelt. Also. Auf der anderen Seite sagt Augustin (1. de Trin. 10.): „Das Schauen ist uns verheißen als Zweck aller Thätigkeiten, als ewige Vollendung aller Freuden.“
b) Ich antworte, die Seligkeit bestehe mehr in der Thätigkeit der beschaulichen Vernunft als der praktisch wirksamen. Das erhellt aus drei Gründen: 1. Wenn die Seligkeit des Menschen Thätigsein ist, so muß dieses das erhabenste sein. Die erhabenste Thätigkeit aber ist jene, welche dem höchsten Vermögen mit Rücksicht auf den erhabensten Gegenstand zugehört. Das höchste Vermögen nun ist die Vernunft, als deren bester Gegenstand das göttliche Gut erscheint, welches offenbar nicht Gegenstand der praktisch wirksamen Vernunft ist, denn es kann von der menschlichen Vernunft nicht gewirkt werden; sondern der beschaulichen, spekulativen. In der Anschauung Gottes also und seiner Vollkommenheiten besteht im höchsten Grade die Seligkeit. Und „weil ein jeder das zu sein scheint, was in ihm das Beste ist“, wie es bei Aristoteles (9 Ethic.) heißt, ist eine solche Thätigkeit am meisten dem Menschen eigen und dient sonach im höchsten Grade dem Ergötzen. 2. Die Anschauung wird in erster Linie wegen ihrer selbst gesucht. Die Thätigkeit der praktisch wirksamen Vernunft aber wird nicht wegen ihrer selbst gesucht, sondern damit die Vernunft thätig sei; und dies geschieht, damit ein weiterer Zweck erreicht werde. Daher ist es offenbar, daß der letzte Endzweck nicht im thätig wirksamen Leben bestehen kann und somit nicht in der Thätigkeit der auf das Wirken nach außen hin gerichteten Vernunft. 3. Das beschauliche Leben hat der Mensch gemein mit den Wesen, die höher sind wie er, nämlich mit Gott und den Engeln, denen er durchdie Seligkeit ähnlich wird. Die Dinge, die zum praktischen Leben gehören, haben die Tiere, wenn auch unvollkommen, gemein mit ihm. Die letzte und vollendete Seligkeit also, welche vom künftigen Leben her erwartet wird, besteht ganz und gar in der Anschauung. Die unvollendete Seligkeit aber, wie sie in diesem Leben erreicht werden kann, besteht in erster Linie und hauptsächlich in der Anschauung; davon hängt dann als Folge die Thätigkeit der praktisch wirksamen Vernunft ab, welche die Wirksamkeit des Menschen und die menschlichen Sinneseindrücke regelt.
c) I. Die Ähnlichkeit der praktisch wirksamen Vernunft mit Gott vollzieht sich gemäß einem gewissen Verhältnisse; denn sie verhält sich zu ihrem Erkenntnisgegenstande wie Gott zu dem seinigen. Die Ähnlichkeit der beschaulichen spekulativen Vernunft aber mit Gott ist gemäß der Einigung, also bei weitem stärker. Und zudem kann gesagt werden, daß Gott mit Rücksicht auf seinen hauptsächlichen Erkenntnisgegenstand, der sein eigenes Wesen ist, keine praktisch wirksame Kenntnis hat, sondern nur eine schauende. II. Die praktisch wirksame Vernunft richtet sich auf ein Gut, welches außerhalb ihrer selbst ist. Die beschauliche, spekulative Vernunft aber hat ihr Gut in sich, nämlich die Anschauung der Wahrheit. Und ist dieses Gut vollendet, so wird daraus der ganze Mensch vollendet und erscheint als gut; was der praktisch wirksamen Vernunft nicht zukommt, die nur hinordnet oder bezieht auf das besagte Gut. III. Dieser Einwurf würde gerechtfertigt sein, wenn der Mensch selber der letzte Endzweck wäre; dann würde die Betrachtung und die Regelung seiner Thätigkeiten und Leidenschaften seine Seligkeit sein. Weil aber der letzte Endzweck des Menschen ein anderes außen liegendes Gut ist, nämlich Gott, den wir durch die Thätigkeit der beschaulichen Vernunft erreichen, so muß die Seligkeit mehr in der Thätigkeit dieser letzteren bestehen.
