Drittes Kapitel. Über das Wesen der Seligkeit.
Überleitung. Inhabitabo in tabernaculo tuo in saecula: protegar in velamento alarum tuarum. Ps. 60. „Wohnen werde ich in Ewigkeit in Deinem Zelte: Schutz werde ich finden in der Hülle Deiner Flügel.“ Sonderbarer Weg, auf den uns hier der Psalmist weist! „Hinabgeführt hast Du mich,“, so hatte er kurz vorher gesagt, „denn Du bist meine Hoffnung geworden; ein Turm voll Kraft vor dem Angesichte des Feindes.“ Und hier spricht er davon, daß sein Schutz die Flügel des Allerhöchsten seien. Flügel dienen doch nicht dazu, hinabgeführt zu werden. Mit Hilfe der Flügel steigt man in die Höhe. „Aufgestiegen bin ich,“ so beschreibt der Psalmist selber die Wirkung der Flügel Gottes, „über die Cherubim und ich will fliegen,“ oder: „gieb mir Flügel wie der Taube und ich werde fliegen;“ und in den Sprichwörtern: „Gleich den Adlern werden sie fliegen bis in Himmelshöhen hinauf.“ Was will also der Psalmist hier ausdrücken, iwenn er sich hinabführen läßt und zugleich seinen Schutz in den Flügeln des Höchsten findet? Was will er damit sagen, wenn er Psalm 137. diese selbe Wahrheit in wenigen Worten kennzeichnet: „Führe mich hinab den Weg der Ewigkeit.“ Gottes ewiger Weg führt doch nicht hinab in den Abgrund, sondern hinauf in hellleuchtende Höhen! Thomas hat mit seinem heiligen Herzen diese Sprache verstanden. Der Glanz des Reichtums tritt versuchend an dich, o Mensch. Es tönt dir die Stimme entgegen: „Dies Alles will ich dir geben, wenn du niederfällst und mich anbetest.“ „Weiche von mir,“ entgegne dieser Stimme. „Nein,“ sagt Thomas, das ist nicht der letzte Endzweck. Ehre und Ruhm locken. Wie schön ist es nicht, überall genannt und bewundert zu werden! War nicht das Los des Dulders Job vor seiner Prüfung beneidenswert und geeignet, alle Wünsche zu befriedigen, da er sagen konnte: „Sie hörten auf mich und warteten auf meinen Ausspruch. Sie schwiegen und waren gespannt, welchen Rat ich ihnen geben würde. Nichts wagten sie hinzuzufügen zu meinen Worten: und auf sie herab floß wie erfrischender Tau meine Rede. Sie warteten darauf, wie man nach langer Dürre auf Regen wartet: und ihren Mund öffneten sie wie ein vor Durst Verschmachtender beim Gewitter am Abend. Wenn ich vertraulich ihnen zulächelte; sie glaubten nicht an so große Herablassung: und das Leuchten meines Antlitzes fiel nicht nutzlos zu Boden. Wollte ich zu ihnen gehen, so saß ich an erster Stelle: und da ich unter ihnen saß wie ein König, den sein Heer umgiebt, war ich trotzdem der Tröster der Betrübten!“ Gewiß ist Ruhm und Ehre begehrenswert. Fragst du aber, ob darin der letzte Endzweck besteht, so antwortet Thomas: Nein. Steige noch weiter hinunter; es öffnet sich da immer mehr die unmeßbare Tiefe. Macht und Gewalt zieht unsäglich an; aber letzter Endzweck kann sie nicht sein. DasWohl des eigenen Körpers kümmert kraft der Natur selber einen jeden. Es freut ihn, wenn es da ist; macht schwer traurig, will es wanken. Aber endgültig befriedigen kann es nicht. Der Glanz der Weisheit selber — und wenn auch in ihm Alles, was geschaffen ist, lichtvoll strahlen würde; sogar die Schönheit der natürlichen Tugenden, unbestechliche Rechtschaffenheit, heilsame Genügsamkeit, Standhaftigkeit selbst in Todesgefahr, in allen Verhältnissen jegliches Ding recht abschätzende Klugheit; — all dies, wozu die edelsten Triebe der Natur hinlenken und magst du noch so tief in das Geschaffene hinuntersteigen, nirgends findest du da den letzten beseligenden Endzweck; nirgends also den rechtmäßigen, alle Handlungen zu leiten berufenen Grund für dein Wirken. Thomas hilft noch weiter. Er schließt das Ergebnis dieses Hinabsteigens in das Wesen der Dinge in dem bezeichnenden Satze kurz ein: „Von keinem Wesen, das geschaffen ist und somit nicht als Selbstzweck dasteht, ist der letzte Endzweck sein eigenes Verharren im Sein.“ All die genannten Güter und Kreaturen und was auch immer noch gefunden werden kann, all dies dient in erster Linie der Erhaltung des menschlichen Seins; selbst die Weisheit, selbst die natürliche Tugend. Nun von diesem Sein eben muß der Mensch absehen, wenn er seinen Endzweck finden will. Bis zu einem solch tiefen Abgrunde führt Thomas hinunter, daß selbst das eigene Sein dabei verschwindet. Die Zither ist nicht da, damit sie sei; sie ist da, damit sie gespielt werde. Der Mensch ist nicht da, damit er sei; er ist da, damit er thätig sei. Mit diesen Woxten hat Thomas den Kern all dieser Untersuchungen herausgeschält; hat er den Abgrund in seinen tiefsten Tiefen eröffnet. Nun zeigt es sich aber auch sogleich, wie dieser Abgrund, wie dieses Hinabsteigen nur „die Hülle der Flügel“ ist, kraft deren der Mensch andererseits mit unwiderstehlicher Kraft und Blitzesschnelle emporsteigt in die höchsten Höhen. Zum Thätigsein gehört ein Gegenstand. Welch anderer Gegenstand kann endlose Vermögen voll anfüllen, so daß nichts mehr fehlt, wie der Unendliche, dessen Sein reinste und vollste, mangellose Thätigkeit ist! Bei jedem anderen Gute, dem etwas fehlt, sagt der Wille: Mehr. Bei jeder anderen Wahrheit als jener, die zugleich ihrem Wesen nach wirkliches Sein ist, sagt die Vernunft: Ich kann mehr erkennen. Von Ihm, vom Unendlichen selber, werden der Seele Flügel verliehen, damit sie kraft derselben ihrer höchsten Thätigkeit, der Liebe und der Erkenntnis Gottes zueile. Die ganze Natur ist nur die Hülle dieser erhabenen Flügel. Sie in der That tragen geheimnisvoll den Menschengeist in die Tiefe, damit er gerade darum desto höher hinaufsteige. Soweit der Mensch die beschränkte Natur befragt, soweit er jene Güter befragt, zu deren Aufnahme die Natur in ihm befähigt ist, heißt es, je tiefer er in das Wesen der Natur hinabsteigt, desto lauter: Ich kann dich nicht voll befriedigen; ich bin nicht dein Endzweck. „Nein,“ hört er da auf Schritt und Tritt; sei es daß er die Güter betrachtet, die er selbst im Innern trägt als ihm von Natur innewohnende oder durch die Natur vorgestellte, sei es daß er die Güter betrachtet, die außerhalb seiner sich finden. Da heißt es: „Führe mich hinab,“ oder: „Von den Endzwecken der Erde her (a finibus terrae) habe ich zu Dir geschrieen; mein Herz war voll Angst; hinabgeführt hast Du mich.“ Aber diese Ohnmacht ist nur scheinbar Ohnmacht; sie ist nur Ohnmacht, wenn man in der Natur stehen bleibt. In Wahrheit ist sie die sichtbare Hülle der unsichtbaren Flügel des Ewigen. Wunderbare Kraft wohnt in diesen Flügeln! In der Tiefe halten sie fest, während sie in die Höhe führen. Im Abgrunde schreiet die Seele voller Angst; und zugleich hat sie schon in sich die Quelle alles Friedens und aller Kraft. „Der eine Abgrund ruft da den anderen an.“ Der Abgrund des kreatürlichen Nichts zieht herab den Abgrund aller Fülle. Je tiefer der Mensch steigt und je mehr deshalb vor ihn tritt das Nichts der Kreatur im Vergleiche zum allein mächtigen Schöpfer, desto höher erhebt er sich; denn der Herr selber in Ihm enthüllt seiner Seele, wie außer Ihm nur das Nichts ist und wie somit nur nach Maßgabe der Verbindung mit Ihm Sein, Kraft, Wahrheit, Freude bestehen kann. „O schamvolles Schauspiel! Der Mensch, der dazu geboren ist, im Hause Gottes zu wohnen und in der Hülle der Flügel des Höchsten zu weilen, wird,“ so ruft Bernardus aus, „tierischer wie das Tier. Er hat die Vernunft, welche ihm das Unendliche als seine Heimat zeigt und gebraucht sie nicht. Verendung sucht er und nicht Vollendung; consumptionem non consummationem. Denn verenden wollen in nutzloser Arbeit, nicht vollendet werden jene, die ihr Ergötzen in dem, was außen erscheint, suchen, nicht im Schöpfer; die da vorher von allen Gütern kosten wollen, ehe sie dem Quell von allen, dem Herrn des All, sich zuwenden.“ (Tract de dilig Dei.) „Gerechterweise,“ schreibt Chrysologus, „wird er zu den Säuen gewiesen und muß den Säuen dienen, damit er fühle, wie elend es sei und wie bitter, die Seligkeit der Ruhe beim Vater verloren zu haben.“ (Serm. 1) Einheit will die Kunst, einheitliche Principien jede Wissenschaft, nach Einheit ruft die menschliche Gesellschaft. Ein Gut, o Mensch, soll der Zweck all deines Wirkens sein; umfaßt und umschließt es ja notwendig alle Güter. Durch dieses Gut werden erst wahrhaft gut die einzelnen Güter. „Dich, o Gott, liebt zu wenig derjenige, der neben Dir noch etwas liebt,“ sagt Augustin, und wiederum: „Das höchste Gut, welches auch das beste genannt wird, soll unzweifelhaft nicht nur geliebt werden, sondern wir dürfen nichts in höherem Grade lieben.“ (de moribus Ecclesiae c. r.) Und der Heide Seneca bereits spricht: „Wir sündigen, so oft wir nur immer auf einen Teil des Lebens blicken, nicht auf das Ganze. Sollen wir etwas fliehen, sollen wir etwas suchen, dann blicken wir auf das höchste Gut, auf das, was dem Leben als etwas Ganzem dient.“ „Der vernünftigen Kreatur,“ erklärt Augustin (13. Conf. 8.), „genügt nicht, um selig zu ruhen, alles das, was geringer als Gott ist.“ Das wird uns jetzt Thomas darthun. Die Ohnmacht der Kreatur ist eben unter seiner Leitung der Felsen geworden, von dem der Psalmist spricht: „Mein Herz war angstvoll; auf einen hohen Felsen hast Du mich gestellt;“ sie ist der Turm geworden, von dem es gleich darauf heißt: „Ein Turm der Kraft vor dem Antlitze der Feinde.“ Warum? Weil Gott ihn hinabgeführt hatte; weil Gott seine Hoffnung geworden war: „Hinab hast Du mich geführt, weil Du meine Hoffnung geworden bist.“ Der Flügelschlag des Herrn ertönt bereits im Innern; jener geheimnisvolle Flügelschlag, der Ruhe ankündet und rastlosen Flug, der im Abgrunde der Tiefe unberechenbare Höhen eröffnet, der mitten in der Angst erfreut, mitten im Flehen befriedigt, mitten im Nichts anfüllt. Diese Flügel wird Thomas nun nehmen, ohne der Hülle zu vergessen, unter der allein sie uns Sterblichen zugänglich sind; und er wird uns zeigen, was „Seligkeit“ sei, welche herrliche Zuthaten sie begleiten, wie zu ihr gelangt werden kann. Der Engel der Schule ist hier gleichsam in seinem Elemente. Das von Gottvolle Herz ergießt Liebesströme unter der äußerlich so kalten Form der Vernunft. Wir werden sehen, wie tief er den Psalmisten aufgefaßt hat, der da sagt: „In Deinem Zelte werde ich wohnen: Schutz werde ich finden in der Hülle Deiner Flügel.“
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