Erster Artikel. Befehlen ist eine Thätigkeit der Vernunft.
a) Dementgegen scheint Befehlen eine Thätigkeit des Willens zu sein. Denn: I. Befehlen will ebensoviel sagen wie jemanden in Bewegung oder Thätigkeit setzen. Avicenna sagt demgemäß: „In vierfacher Weise wird etwas in Bewegung gesetzt: durch Vollenden, durch Vorbereiten, durch Befehlen, durch Beraten.“ Dem Willen aber gehört es zu, alle anderen Fähigkeiten in Thätigkeit zu setzen. Also. II. Daß jemandem etwas befohlen wird, zeigt Unterthänigkeit an. Befiehlt also jemand, so ist dies in selbem Maße Zeichen der Freiheit. Die Wurzel der Freiheit aber ist vor allem im Willen. Also dem Willen steht es zu, Befehle zu geben. III. Dem Befehle folgt sogleich die entsprechende Thätigkeit. Das Urteil der Vernunft aber ist nicht unmittelbar begleitet von der entsprechenden Thätigkeit; denn nicht ist sogleich thätig wer urteilt, es müsse etwas gethan werden. Auf der anderen Seite sagt Gregor von Nyssa (de nat. hom. 16.) und Aristoteles (1 Ethic. 13.): „Das Begehren hört auf die Vernunft.“ Also der Vernunft ist es eigen, zu befehlen.
b) Ich antworte; Befehlen sei eine solche Thätigkeit der Vernunft, von der die des Willens vorausgesetzt wird. Damit dies klar werde, muß man berücksichtigen, daß, insofern die Vernunft in ihrer von einem auf das andere schließenden Thätigkeit zum Gegenstande das Wollen und der Wille seinerseits zum Gegenstande hat die Thätigkeit der Vernunft, es sich naturgemäß trifft, daß der Akt des Willens vorausgesetzt wird vom Akte der Vernunft und umgekehrt. Und da die Kraft und das Ergebnis der vorhergehenden Thätigkeit bleibt in der darauffolgenden, so trifft es sich ebenso, daß bisweilen eine Thätigkeit dem Willen angehört, insoweit in ihr zurückbleibt etwas von dem Einflüsse und der Kraft der Vernunftthätigkeit, wie das bei der Auswahl und dem Gebrauche gesagt worden, — und daß umgekehrt der Vernunft eine Thätigkeit zuweilen angehört, insoweit darin der Einfluß der voraufgehenden Willensthätigkeit wirksam ist. Dem Wesen nach nun ist zwar Befehlen eine Thätigkeit der Vernunft; denn wer befiehlt, der stellt die geordnete Beziehung her zwischen demjenigen, dem er befiehlt und dem, was gethan werden soll; und diese Herstellung der Ordnung vermittelst einer Ankündigung oder Hinleitung gehört der Vernunft an. Und zwar geschieht dieses Ankündigen oder Hinleiten in doppelter Weise: einmal ohne unmittelbare Beziehung, „absolut“ nämlich, wie wenn jemand sagt: In diesem Falle ist dies oder jenes von dir zu thun; und solches Befehlen vollzieht sich in der anzeigenden Form; — dann, indem die Vernunft zugleich dazu hinbewegt; und solches Befehlen geschieht vermittelst der befehlenden Form, wie wenn jemand sagt: Thue dies. Das erste Princip nun für das Hinbewegen zum Ausüben einer Thätigkeit ist unter den Kräften der Seele der Wille. Dies also selber daß die Vernunft dadurch befehlend ordnet daß sie hinbewegt, folgt aus dem wirksamen Einflüsse des Willens; denn das an zweiter Stelle Bewegende thut dies nur auf Grund des an erster Stelle in Bewegung Setzenden. Also wird vom Akte des Befehlens seitens der Vernunft vorausgesetzt der Akt des Willens, kraft dessen die Vernunft selber dann die Vermögen bewegt zur Ausübung der entsprechenden Thätigkeit.
c) I. Befehlen ist nicht einfach Bewegen, sondern ein Bewegen verbunden mit einem gewissen Ankündigen oder Hinleiten, also mit dem Anordnen einer Beziehung zu etwas Anderem; und das ist Sache der Vernunft. II. Die Wurzel der freien Thätigkeit ist der Wille als Subjekt oder Träger des freien Aktes. Die Vernunft aber ist diese Wurzel als Ursache der freien Thätigkeit; denn aus dem Grunde kann der Wille frei auf Verschiedenes sich hinbewegen, weil die Vernunft verschiedene Auffassungen des Guten haben kann.Und deshalb bestimmen die Philosophen die freie Wahlthätigkeit als ein Urteil, welches auf Grund der Vernunft frei ist; denn die Vernunft ist die Ursache des Freiseins. III. Das Befehlen ist eine mit einem gewissen In-Bewegung-Setzen verbundene Thätigkeit; und deshalb ist Befehlen nicht ohne alle weitere Voraussetzung eine Thätigkeit der Vernunft.
