Sechster Artikel. Ebenso ist in gewisser weise der Vernunftakt dem Befehlen unterworfen.
a) Der Vernunftakt scheint in keinerlei Weise ein befohlener sein zu können. Denn: I. Die Vernunft befiehlt, also unterliegt sie nicht einem Befehle; denn nichts befiehlt sich selbst gegenüber. II. Was da etwas seinem Wesen nach ist, das ist verschieden von dem, was dieses selbe nur der Mitteilung oder Teilnahme nach ist. Jenes Vermögen aber, dessen Thätigkeit von der Vernunft befohlen, nimmt an dem Vorzuge der Vernunft teil, wird Vernunft durch Teilnahme oder Mitteilung, wie Aristoteles (1 Ethic. 13.) sagt. Also was seinem Wesen nach bereits Vernunft ist, unterliegt keinem Befehl. III. Jene Thätigkeit wird befohlen, die in unserer Macht steht.Wahres erkennen aber oder nach dem Maßstabe der Wahrheit urteilen, also die Thätigkeit der Vernunft, ist nicht immer in unserer Gewalt. Also kein Akt der Vernunft ist ein befohlener. Auf der anderen Seite unterliegt unserem Befehlen das, was wir kraft des freien Willens thun. Die Thätigkeit der Vernunft aber vollzieht sich vermittelst des freien Willens; denn Damascenus (2 orth. fide 22.) sagt: „Kraft seines freien Willens untersucht der Mensch und forscht nach und urteilt und verfügt.“ Also unterliegt die Vernunftthätigkeit dem freien Willen.
b) Ich antworte; die Vernunft wendet sich zu sich selber zurück. Wie sie somit anordnen kann mit Rücksicht auf die anderen Vermögen, so auch mit Rücksicht auf sich selbst. Also kann auch ihre Thätigkeit eine gebotene sein. Jedoch muß hier berücksichtigt werden, daß 1. die Ausübung der vernünftigen Thätigkeit in Betracht kommt und so unterliegt die vernünftige Thätigkeit immer dem Befehlen; wie wenn ich z. B. jemandem sage, er solle aufpassen und seine Vernunft gebrauchen. Es kommt jedoch 2. auch der Gegenstand der vernünftigen Thätigkeit in Erwägung und hier müssen zwei Thätigkeiten unterschieden werden, von denen die erste sich darauf richtet, daß die Wahrheit betreffs eines Dinges erfaßt wird; — und das ist nicht in unserer Gewalt; denn dies vollzieht sich kraft des Verstandeslichtes, mag dasselbe ein der bloßen Natur entsprechendes oder ein übernatürliches sein. Mit Bezug darauf also ist die Vernunftthätigkeit nicht in unserer Gewalt und wird nicht befohlen. Die zweite Vernunftthätigkeit richtet sich darauf, daß die Vernunft dem Aufgefaßten zustimmt. Und handelt es sich hier nun um solche Auffassungen, welche kraft der Natur der Vernunft geschehen wie die der ersten Principien, so ist die Zustimmung oder Zurückweisung nicht in unserer Gewalt; die Natur befiehlt hier. Sind aber die Auffassungen derart, daß sie nicht vollständig überzeugen und somit von sich selber aus kein Zustimmen oder Zurückweisen notwendig nach sich ziehen, so ist letzteres in unserer Gewalt und kann demgemäß das Befehlen einen bestimmenden Einfluß gewinnen.
c) I. Die Vernunft befiehlt sich selber, wie der Wille sich selber bewegt (Kap. 9, Art. 3.), insofern jedes der beiden Vermögen zur eigenen Thätigkeit sich zurückwendet und von dem Einen zum Anderen hinstrebt. II. Die Gegenstände der Vernunftthätigkeit sind verschieden; und so steht dem nichts entgegen, daß die Vernunft in ihrem Akte an sich selber Anteil nimmt; wie z. B. in der Kenntnis der Schlußfolgerungen eine Teilnahme sich findet an der Kenntnis der Principien. Damit ist auch geantwortet auf III.
