6.
Indem ich mich anschicke, von seinem nie versiegenden Thränenstrom zu reden, werde ich in Wahrheit selbst von Thränen ergriffen. Denn nicht kann man Dem wohl entgehen, wenn man sein Thränenmeer in der Rede durchschifft. Denn wie alle Menschen ihrer Natur nach Athem holen und niemals das Athemholen aussetzen, in gleicher Weise vergoß Ephräm Thränen. Nicht einen Tag, nicht eine Nacht, nicht eine halbe Nacht, nicht eine Stunde, nicht den kleinsten Augenblick konnte man sein nie schlafendes Auge trocken sehen, und er beweinte, wie er sagte, theils die gemeinsamen, theils seine eigenen Thorheiten, und weise lockte er die Ströme der Augen durch Seufzer herbei, oder vielmehr er rief die Seufzer durch die Thränenströme der Augen hervor, und auffallend war die Veranlassung auf beiden Seiten, indem das eine als die Ursache des Andern S. 473 erschien. Denn es wurden bei ihm die Seufzer durch Thränen und die Thränen wieder durch Seufzer erzeugt, und der Grund hievon war den Meisten unbekannt. Da nämlich keine Zeit dazwischen lag und aus den Seufzern immer Thränen hervorquollen und aus diesen wieder Seufzer, und so ein Kreislauf stattfand, war der Anfang und die Veranlassung des einen Theiles nicht bemerkbar. Und das wird man wahrnehmen, wenn man sich mit seinen Schriften befaßt. Denn man wird finden, daß er nicht bloß weint in den Reden über Buße, Sitte und gute Lebensweise, sondern selbst in seinen Festreden, wo die Meisten in ihren Reden in lauten Jubel auszubrechen pflegen. Er aber blieb sich überall gleich, und er war beständig reich an der Gabe der Zerknirschung. Deßhalb ruft er auch jetzt noch fast Alle, die seine Reden hören, zum wahren Leben. Eine so große Kraft besitzt seine von Gottes Geist durchwehte, mit Thränen untermischte Rede. Denn wer ist so gefühllos oder so harten Herzens, daß er bei Anhörung seiner Worte nicht gerührt werden, nicht seinen verstockten Sinn ablegen und seine Schlechtigkeit verabscheuen sollte? Wer hat eine so verwilderte Gemüthsart oder eine so unmenschliche Gesinnung, daß er, wenn er seine heilbringende Lehre mit den Ohren vernommen hat, nicht sogleich rechtschaffen, sanft und wohlgesittet werden sollte? Wer sucht sich so sehr in den Wollüsten des Lebens zu ergötzen und ist so sehr dem Weinen abgeneigt, daß er bei Anhörung einiger seiner Worte nicht weinen und klagen und sein Leben sich nicht zu Gemüthe führen sollte?
1 Die nicht zu uns gehören, haben von unmöglichen Dingen das Sprüchwort gebraucht: Du kochest einen Stein. Das hat die Erfahrung uns als Wirklichkeit dargestellt. S. 474 Denn ganz verknöcherte und unerweichliche Seelen überredete dieser göttliche Greis, daß sie besorgt wurden und sich erweichen ließen. Wer, wenn er seine Rede über die Demuth liest, wird nicht sogleich jede hohe Meinung von sich weisen und sich für den Geringsten erklären? Wer, wenn er sich mit seinen Reden über die Liebe befaßt, wird sich nicht bereit zeigen, für die Liebe Gefahren zu bestehen? Wer, wenn er mit seinen Büchern über die Jungfräulichkeit Bekanntschaft macht, wird nicht streben, an Seele und Leib sich Gott rein darzustellen? Wer, wenn er in die Reden vom Gerichte oder der zweiten Ankunft Christi nur einen Blick wirft, wird nicht glauben, bei jenem Gerichte gegenwärtig zu sein? Wer wird nicht von Zittern befallen werden und meinen, daß bereits der letzte Urtheilsspruch über ihn ergehen werde? Denn dieser gefeierte Mann und große Prophet schilderte das bevorstehende Gericht Gottes in solcher Weise, daß nichts Weiteres mehr von der Kenntniß fehlte, sondern nur mehr, daß man es in der Wirklichkeit und durch die Erfahrung kennen lernte.
Immer mit solchen Vorstellungen über das Gericht beschäftigt, floh der Selige die Welt und die Dinge in ihr, und er flüchtete sich weit weg, wie es in der Schrift heißt,2 und nahm seinen Aufenthalt in der Einsamkeit, bloß mit sich und Gott beschäftigt, und gewann dort die Zunahme in den Tugenden. Denn es war ihm genau bekannt, daß das Leben in der Einsamkeit Den, welcher will, vom Geräusch der Welt frei macht und in Folge der Ruhe ihn in Verkehr mit den Engeln bringt, und durch die Betrachtungen Gottes den Geist erhöht, so sehr es möglich ist. Wenn aber der ihn bewegende Geist heischte, daß er zur Erbauung Vieler von einem Orte zum andern wanderte, so war er nicht ungehorsam und widersetzte sich nicht. Denn er war den Befehlen Gottes unterwürfig, wie kein Anderer. S. 475 Deßhalb verließ er auch auf Befehl wie jener göttliche Abraham,3 sein Vaterland und kam nach der Stadt der Edessener, ― denn es geziemte sich nicht, daß die Sonne sich lange unter der Erde verborgen hielt, ― und zwar aus zwei Gründen, nämlich um die dortigen Heiligthümer zu verehren und noch mehr, um mit einem weisen Manne zusammen zu treffen und eine Frucht der Erkenntniß entweder zu empfangen oder mitzutheilen.
