9.
Vielleicht möchte nun Einer, wenn er von einer großen Menge von guten Thaten hört, glauben, daß dieser göttliche Mann nicht tief in die kirchlichen Lehren eindrang? Denn wie fand er Zeit, möchte ein Solcher sagen, da er durch so viele Tugendübungen in Anspruch genommen war? Er hatte aber keine oberflächliche Kenntniß der göttlichen Lehren. Denn er suchte diese nicht bloß bis zu dem Grade, um reden und Andere ermahnen zu können, sondern er war nach zwei Richtungen hin wohl unterrichtet, sowohl in den Lehren der Kirche selbst, als auch in Denen, die man Diesen zur Bekämpfung entgegensetzt. Die ersteren erlernte er zur Anwendung in seinem Berufe, die letzteren zur Widerlegung der Häretiker. Denn der Eifer entflammte ihn gegen die in der Kirche auftretenden Bestien. So kam eine S. 481 ungeschriebene Nachricht auf uns, die uns seinen Eifer für die Wahrheit zeigt, und welche lautet, wie folgt.
Der leichtsinnige oder vielmehr unsinnige und wahnsinnige Apollinarius, der viele Neuerungen gemacht und aus seinem Leibe entleert hat, sudelte eine gottlose Schrift gegen die Frömmigkeit zusammen und theilte sie in zwei Bücher. Diese hatte er einer Weibsperson, die, wie es hieß, seiner Wollust diente, zur Aufbewahrung übergeben. Sobald der große Mann von der Schrift Kenntniß erhielt, begab sich der Weise unter dem Scheine, als ob er ein Anhänger seiner Meinung wäre, zur Weibsperson, die jene unreinen Bücher in Verwahrung hatte, gab sich zu erkennen, brachte ihr gute Nachrichten wie aus der Wüste, und bediente sich wohl noch anderer Kunstgriffe. Zuletzt bittet er sie, sie möchte ihm des Nutzens wegen, wie er sagte, die Schriften des Lehrers geben, um die Häretiker, wie er nämlich uns nannte, leichter bekämpfen zu können. Diese aber merkte seine Absicht nicht1 und ließ sich hintergehen, als ob er zur Sekte des Apollinarius gehörte, übergab ihm die Bücher und trug ihm auf, dieselben bald wieder zurückzustellen. Dieser große Jakob, welcher den unreinen Esau hintergangen und die schlimme Erstgeburt seiner Gedanken sich angeeignet hatte, ging nun listig zu Werke. Denn indem er Blatt an Blatt legte und das Ganze mit Fischleim bestrich, brachte er das ganze Buch in einen Zustand, als wenn es ein einziges Blatt gewesen wäre, indem ein Theil vom andern wegen der zu festen Verbindung sich nicht trennen ließ. Nachdem er die zwei Bücher so zugerichtet hatte, gab er sie der Leiherin wieder zurück, die als Weib unbekannt mit gelehrten Untersuchungen, da sie an deren äusseren S. 482 Gestalt keine Änderung wahrnahm, sich um den inneren Zustand nicht weiter kümmerte.
Nach Verlauf einiger weniger Tage veranlaßt der göttliche Greis einige Rechtgläubige, den gottlosen Apollinarius zu einer Unterredung einzuladen. Dieser nahm die Einladung an und erschien im Vertrauen auf seine gottlosen Bücher am festgesetzten Tage. Einen freien Vortrag lehnte er unter dem Vorwande seiner Altersschwäche ab, ging aber darauf ein, sich seine Bücher bringen zu lassen und aus ihnen zu antworten und zu erwidern. Als nun seine Jünger die Bücher geholt hatten und damit großen Prunk machten, nahm jener in schlimmen Tagen ergraute Richter der Ungerechtigkeit2 eines der Bücher und suchte es zu öffnen. Da es aber, weil vom Leime festgehalten, sich nicht öffnete, versuchte er es in der Mitte des Buches. Aber auch hier ließ es sich nicht aufschlagen.3 Da er also mit dem ersten Nichts ausrichten konnte, so machte er sich sofort an das zweite, und als er nun fand, daß es sich gleichfalls nicht öffnen lasse, und ganz und gar nicht nachgebe, wechselte er vor Scham die Farbe, und die Verlegenheit raubte ihm die Fassung. Und indem er in Verwirrung die Versammlung verließ, wurde er vor lauter Kummer krank und kam dem Tode nahe. So unerträglich war ihm die Schmach.
Τὸν νοῦν οὐκ ἐμφωθεῖσα [Ton noun ouk emphōtheisa]. Ich übersetzte, wie es mir in den Zusammenhang zu passen schien, da ἐμφωθεῖσα [emphōtheisa] kein griechisches Wort ist. ↩
Dan. 13, 52. ↩
Ἡ δ’ ὁμοίως ἦν ἀνεπτυγμένη [Hē d’ homoiōs ēn aneptygmenē]. Voß übersetzt: Eodem modo (mediam libri partem) conglutinatam invenit. Das setzt statt ἀνεπτυγμένη [aneptygmenē] eine andere Lesart voraus, etwa προσεπτυγμένη [proseptygmenē]. ↩
