8.
Und nachdem sie viele der damaligen Heiligen erwähnt hatten, ohne daß sie ihren Beifall fanden, sagten sie zuletzt einstimmig: Niemanden kann dieses Buch übergeben werden ausser dem Ephräm. Und der das Gesicht hatte, heißt es, habe auch das geschaut, wie die göttlichen Engel dem Ephräm das Buch gaben, und es habe sich Der, welcher die geheimnißvolle Vision hatte, bei Nacht aufgemacht und sei in die Kirche gekommen. Da habe er den Ephräm eine inhaltsschwere, von der Gnade durchdrungene Rede halten hören. Und da er nun die Bedeutung des geschauten Gesichtes erkannte, habe er Gott gepriesen und die dem Heiligen verliehene reiche Gabe der Rede angestaunt. Denn es war ihm ein solches Übermaß der Weisheit verliehen, daß die Ströme seiner Rede beständig floßen, aber zu langsam waren für die Darstellung seiner Gedanken, nicht wegen Schwerfälligkeit der Zunge, sondern wegen des Reichthums der Gedanken. Und so hielt seine Zunge der Schnelligkeit fremder Gedanken das Gleichgewicht, war aber zu langsam für die Darstellung der eigenen Vorstellungen. Deßhalb soll der große Greis selbst Gott seinetwegen gebeten und um Mäßigung des unwiderstehlichen Geschenkes der Gelehrsamkeit also gefleht haben: „Laß nach, o Herr, mit den Wogen deiner Gnade.“ Denn der seine Zunge überfluthende Abgrund der Lehrweisheit gestattete ihm nicht, seine Gedanken zu bemeistern, indem die Sprachorgane ihm S. 478 die der vorzutragenden Predigt entsprechenden Wogen nicht zuführten.1
Es unterbrach aber seine Reden nichts Anderes, als das Gebet allein, und dieses die Reden und diese die Thränen und diese wieder das Gebet. Und es war das Wort des Wortes oder, um es genauer auszudrücken, im Worte, das sich beständig mit Betrachtungen über Gott bei allen diesen Beschäftigungen befaßte. Denn indem er den Körper mit seinen Lüsten ertödtete und ihn durch Enthaltsamkeit der Herrschaft der Vernunft unterwarf, hatte derselbe, weil im Voraus durch Entziehung der Nahrung gebändigt, keine Neigung zum Unerlaubten, hielt dagegen fest am Nützlichen und an Dem, was das Heil der Seele verschafft. Ja nicht einmal die Nächte hemmten den Lauf seiner Tugend, und sie täuschten ihn nicht mit den Vorspiegelungen des Schlafes. Denn da sie nach dem Tage den Nüchternen empfingen, so eilten sie an ihm vorbei und berührten ihn nicht, wie wenn er gewacht hätte, indem er dafür besorgt war, daß ihn die Hand des Beherrschers dieser Finsterniß nicht im Schlafe erfaßte. Schlaf genoß er aber so viel, als zum Leben genügte, damit nicht durch den gänzlichen Umsturz der natürlichen Ordnung das Fleisch einer gewaltsamen Auflösung unterläge. Den Schlaf vertrieb und verscheuchte ihm sowohl vieles Andere aus den Augen, als auch vorzugsweise das Liegen auf dem Boden und die abgehärtete Lebensweise und mannigfaltige Mißhandlung des Körpers. Denn besonders dadurch wird naturgemäß das Eintreten des Schlafes ferngehalten. Die Armuth bewahrte er in so hohem Grade, wie man vernimmt, daß sie von den göttlichen Aposteln bewahrt worden sei. Deßhalb wird man, wenn man ihn das Muster der Besitzlosen nennt, von der Wahrheit nicht S. 479 abirren. Denn von ihm selbst haben wir ein süßes und seliges Wort, das er, als er im Begriffe stand, in die himmlischen Gegenden sich aufzumachen, uns zum Lehrer der Besitzlosigkeit hinterlassen hat, und das ungefähr also lautet: „Es hatte Ephräm niemals weder Geldbörse noch Stab noch Reisesack. Auch habe ich weder Silber noch Gold noch irgend einen anderen Besitz auf der Erde mir erworben. Denn ich hörte den guten König in den Evangelien zu seinen Jüngern sagen: „Besitzet Nichts auf Erden.“2 Deßhalb entsagte ich jeder Leidenschaft für dergleichen Dinge. So verachtete er also Ruhm und Schätze, liebte das Gute über Alles, und eiferte auch von dieser Seite im gleichen Wettlaufe mit den Aposteln.
Was sollen wir aber Zeugniß für seine Demuth ablegen, da jede seiner Reden und Schriften diese Tugend deutlich verkündet, und er sie nur zu sehr gesucht hat? Denn wann sollte Der, welcher Thränen durch Thränen hervorruft, der Asche wie Brod genießt, seine grobe und unschmackhafte Nahrung und seinen Trank, wie es in der Schrift heißt, mit Thränen mischt,3 den Fuß der Seele an den Stein der Überhebung oder des Eigendünkels stoßen? Oder wann Der, welcher jeden menschlichen Ruhm von sich wies, und als er noch im Leben weilte, wenn ihn Jemand lobte, sich betrübte, die Farbe wechselte, zur Erde sah, einen leichten Schweiß vergoß und ganz verstummte, wie wenn Beschämung seine Zunge gelähmt hätte, und der, als er zum seligen und ewigen Leben aufbrach, gerade das wieder mit großer Mißbilligung von sich abwehrte und sagte: „Singt dem Ephräm kein Todtenlied, haltet ihm keine Lobrede. Beerdigt mich nicht in kostbarem Gewande, errichtet meinem Körper kein abgesondertes Grab. Denn ich habe Gott gelobt, unter den Fremden zu wohnen. Ein Fremdling bin ich und ein Eingewanderter, wie alle meine S. 480 Väter?“4 Du hast also auch von dieser Tugend, wie von den übrigen klare Beweise in Überfluß. In Betreff der Barmherzigkeit und des Mitleids wird man nach dem Maßstab und Gesetz der Wahrheit aussprechen müssen, daß er sie nicht bloß geübt habe, sondern auch ihr Lehrer gewesen sei. Denn da er wegen seiner vollkommenen Armuth den Dürftigen nicht mittheilen konnte, so suchte er, indem er durch häufige Ermahnungen das Mitleid bei Andern wach rief, zur Barmherzigkeit zu bewegen. Denn es war seine Rede auch ohne seinen Anblick in der That ein von Gott verfertigter Schlüssel, der die Schätze der Reichen aufschloß und den Dürftigen das Nöthige verschaffte. Sein englisches Antlitz aber vermochte, wenn man es nur ansah, durch den Ausdruck der Einfalt, Sanftmuth und der beigemischten großen Rechtschaffenheit auch ganz hartherzige Menschen zu Mitleid und Erbarmung zu bewegen. Und wer war so sehr in Schamlosigkeit versunken, daß er, wenn er ihn ansah, nicht erröthete und so selbst sittsamer wurde?
