9.
S. 57 Wir müssen aber auch gegen einige Kirchenschriftsteller1 etwas über die Scheidung der Gewässer sagen. Unter dem Vorwand höherer Erleuchtung und erhabenerer Einsicht haben sie zur Allegorese ihre Zuflucht genommen und behaupten, unter den Wassern seien bildlich geistige und körperliche Kräfte zu verstehen, die besseren seien oben beim Firmament geblieben, die bösen hätten sich an irdischen und materiellen Örtlichkeiten niedergelassen. Daher, sagen sie, loben Gott auch die Wasser am Himmel, d. h. die guten Kräfte, die da wegen der Reinheit des Geistes würdig seien, dem Schöpfer das gebührende Lob darzubringen. Die Wasser unter dem Himmel aber seien böse, aus ihrer natürlichen Höhe in die Tiefe der Bosheit gestürzte Geister. Diese letzteren, unruhig und aufrührerisch und von ungestümen Leidenschaften hin und her getrieben, seien wegen der leichten Wandelbarkeit und Unbeständigkeit ihrer Willensregungen Meer genannt worden.
Doch solcherlei Reden weisen wir als Traumgebilde und Altweibergeschwätz ab, verstehen unter Wasser Wasser und nehmen die durch das Firmament bewirkte Scheidung in genanntem Sinne an. Und wenn auch einmal die Wasser über den Himmeln zum Lobpreis des gemeinsamen Schöpfers des Weltalls aufgerufen werden, so halten wir sie deshalb doch noch nicht für vernunftbegabte Natur. Denn die Himmel sind doch nicht beseelt, weil sie „Gottes Herrlichkeit erzählen2”, noch ist das Firmament ein sinnbegabtes Lebewesen, weil es „das Werk seiner Hände verkündigt3”. Wenn aber jemand sagt, die Himmel seien die kontemplativen Kräfte, das Firmament aber bestehe in den aktiven, die Weltwirklichkeit schaffenden Kräften, so nehmen wir diese Rede als feinsinnigen Einfall hin, geben aber niemals zu, daß er zutreffend sei. Denn so wären auch Tau und Reif, Kälte und Hitze, die von Daniel4 zum Preis auf den Schöpfer des Weltalls aufgerufen wurden, geistige S. 58 und unsichtbare Wesen. Wird aber diese Redeweise in dem Sinne genommen, wie sie von Vernünftigen aufgefaßt wird, dann vollendet sie den Lobpreis auf den Schöpfer. Denn nicht bloß das Wasser über den Himmeln verkündigt das Lob Gottes5), als wäre es wegen der ihm eigenen Vortrefflichkeit besonders bevorzugt, sondern es heißt auch: „Lobt ihn, auch ihr auf Erden, ihr Ungeheuer und alle Abgründe6.” Demnach auch der Abgrund, den die Allegoristen zum schlechteren Teil verwiesen - auch er wurde vom Psalmisten nicht für verwerflich befunden, sondern in den gemeinsamen Chor der Schöpfung aufgenommen; und auch er stimmt nach seiner Weise harmonisch in den Lobgesang auf den Schöpfer ein.
