2.
Die Naturkräfte könnten nicht das sein, was sie sind: die Elemente würden nicht fortdauernd bestehen; die Zeitabschnitte würden nicht gemäß ihrem vertrauten Zusammenhang zu ihrem regelmäßigen Endpunkt zurückkehren, wenn nicht die Geduld sozusagen wie eine besorgte Mutter über den ordnungsgemäßen Verlauf der Dinge wachte. Denn mag die Sonne noch so sehr abwechselnd die entgegengesetzten Enden der Welt mit wunderbarer Schnelligkeit erleuchten, niemals wird sie vor der geliebten schüchternen Morgenröte erscheinen; und was noch das Größere ist, sie könnte nicht, ich will nicht sagen in zwölf Zeiträume, nein sogar in zwölf Stundenabschnitte sich gleichmäßig verteilen, wenn Ungeduld ihren Lauf beschleunigte. Und wenn auch der Mond, der in seinem einen Monat dauernden Kreislauf manchen nur umherzuirren scheint, niemals den Schein, der sein Alter erkennen läßt, über die Zeit hinaus verlängert, niemals auch ihn abkürzt, — was anderes läßt sich daraus erkennen als die auf Erfahrung gegründete Zucht einer hervorragenden Geduld, die der Anordnung seines Schöpfers dient? Und mag das Meer, wenn es von den Stürmen gepeitscht aufbraust, noch so sehr an seiner ganzen Fläche toben, mit seinen Schaumbergen, die allenthalben wie Glas glänzen und in fortwährendem Wechsel bald zum Himmel emporsteigen, bald den Grund suchen, mit seinen dräuenden Massen von rasenden Wellen: es bricht doch nach dem mattgewordenen Rückschlag seiner letzten Brandung, gleich als ob es das Recht des Festlandes anerkennen und seine Verletzung meiden wollte, in wunderbarer Geduld in sich selbst zusammen und wird durch dieselben Fluten, durch die es zusammengeschlossen wird, auch zurückgehalten. Die Geduld verleiht den grünenden Wiesen, den reifenden Ährenfeldern, den fruchtgebogenen Reben, den grauen Olivenbäumen S. 114 ihre Fruchtbarkeit wie ihr reizvolles Aussehen; denn sie duldet es nicht, daß die Früchte jeder einzelnen Jahreszeit durch Ungeduld zum Schaden der andern zu früh zur Reife gelangen. Was wollen die reizenden Unterhaltungen der verschiedenen Vögel? Was wollen die im Schreiben geschickten 1 Kraniche in der Luft mit ihrem steil ansteigenden Flug? Was wollen die unzähligen keilförmig gestalteten, nach dem Alter abgestuften Züge der verschiedenartigen Fische unter ihren Führern? Wenn sie der Forderung der Jahreszeiten gehorchen und in schön anzusehender Ruderfahrt die Wasser durchfurchen oder die Luft durchschneiden, — bedeutet das nicht, daß sie geduldig kommen und geduldig wieder fortziehen?
Nach der Lesart bei Giuliari: Quid avium diversarum decora commercia? Literataeque quid arduis volatibus aeriae grues? Sie verdient gegenüber dem Texte der Ballerini:... decora commercia literataque? Quid arduis volatibus aeriae grues den Vorzug, da nach der Anschauung der Alten die Kraniche im Flug die Formen von Buchstaben bildeten. Vgl. die bei Giuliari angefügten Beispiele, namentlich Hier. ep. 125, 15: Grues unam sequuntur ordine literato. ↩
