Neunundfünfzigster Vortrag: Vom Fasten und Almosengeben.
Von sehr vielen haben wir gelesen, dass sie zwar Nationen im Kriege bezwungen haben, aber im Kampfe mit dem Fleische nicht Sieger geblieben sind. Von sehr vielen haben wir erzählen hören, dass sie ihre Brust den Lastern preisgaben, während sie dem Feinde nie den Rücken zugewandt haben. Ja, Völkerbezwinger wurden Sklaven des Lasters; die über Nationen herrschten, dienten der Sünde in schmachvoller Knechtschaft! Dem entgegen starrenden Schwerte hielten sie stand, unter den Reizen der Unzucht sanken sie kraftlos dahin. Königen waren sie ein Schrecken, den Lastern dienten sie zum Spielball; nüchtern durchbrachen sie die feindlichen Kampfesreihen, in ihrem Rausche unterwühlten sie die Burg ihrer Kräfte; in ausgegossenem Weine lagen sie, die nie lagen in dem vergossenen Blute! Woher dies? Woher? Das ist doch nicht vernunftgemäßes Tun, sondern Erschlaffung; kein Leben, sondern Fieberglut; Wahnsinn und nichts Natürliches! Denn so oft immer unverdaute Speisen die Lebenskraft erschüttern, den Magen schwächen, das Blut verderben, die Säfte des Körpers vergiften, die Galle entzünden und schließlich Fieberhitze erzeugen, so oft auch erleidet der Kranke Verlust an Geist und Verstand; die Begierde reizt ihn; nach dem Entgegengesetzten fühlt er sich hinge rissen; er verachtet, was ihm Heilung bringt, sucht, was ihm schädlich ist; er entzieht sich der Pflege. Dann ist der Arzt bestrebt, ihm zu helfen durch das Heilmittel der Enthaltsamkeit: die Enthaltsamkeit soll S. 326heilen, was die Eßgier verdorben hat. Und wenn so für die irdische Gesundheit die Kranken dem Arzte folgen, schließlich auch sich der größten Entbehrung unterziehen: warum sollte es um des ewigen Heileswillen für die Christen zu schwer sein, sich einem mäßigen Fasten zu unterwerfen? Wie schwarze1 Wolken den Himmel verdüstern, so verdunkeln die zügellosen Gelage die Seele. Wie die Wirbelwinde die Elemente durcheinander werfen, so verwirren die übermäßigen Gerichte den Magen. Wie die Woge das Schiff, so versenkt die Trunk sucht den Leib, stürzt den Menschen in die Tiefe, beraubt ihn des Lebensgewinnes und läßt ihn erleiden den Schiffbruch des Todes.
Dieses Fieber also, dieses Fieber ist es, das im Innern des Menschen brennt, wie der hl. Apostel also klagt: „Ich weiß, dass in mir, d. i. in meinem Fleische, Gutes nicht wohnt“2 . Wenn also nicht Gutes, dann Böses? Und welches Böse? Die Begierlichkeit freilich. In meinem Fleische lebt sie, in meinen Adern brennt sie, meine Glieder durchdringt sie, in meinem Marke schlummert sie, im Blute glüht sie und bricht so aus in den Wahnsinn des Lasters. Die Begierlichkeit: dieses Fieber der Natur, diese Mutter der Schmerzen, die Gebärerin der Leidenschaften: die Begierde ist es, die uns solche Nöte auferlegt. Wo aber Zang ist, da ist kein Wille; wo Gefangenschaft, da keine Macht. Die Begierlichkeit ist es, die den Menschen dahin treibt, wohin der Wille nicht zieht, sondern der Zwang, wie der Apostel sagt: „Ich tue nicht das, was ich will“3 . Indem die Begierlichkeit dem Menschen reicht, was ihm notwendig ist, läßt sie ihn gelangen zu dem, was ihm nicht notwendig ist4 : indem sie ihm Speise bereitet, führt sie ihn zur Völlerei; indem sie ihm den Trank mischt, verleitet sie ihn zur Trunksucht; sie bietet ihm den Schlaf an, um ihn der Trägheit auszuliefern; sie sorgt für die S. 327Bedürfnisse des Leibes, damit er hintansetze die Sorge für sein Seelenheil; sie gibt alles dem Fleische, damit der Seele nichts mehr verbleibe; sie ist es, die den Leib zum Schauplatz der Leidenschaften, den Menschen zu seinem eigenen Mörder macht, dass er nur noch den Lastern lebt! Wenn also ein Mensch sich derart krank fühlt, möge er sich wenden an den himmlischen Arzt. Er möge sich nur ruhig dessen Anordnungen fügen, sich von der Speise enthalten, Maß halten im Trinken, damit er so überwinden könne die kranke Begierlichkeit, vertreiben5 könne die Begierlichkeit der Leidenschaften, die Hitze und die Unsinnigkeit der Laster meiden könne.
Die Enthaltsamkeit ist des Menschen erste Arznei, aber zur vollen Gesundung bedarf es noch der Gaben der Barmherzigkeit. Die Enthaltsamkeit löscht das Fieber, aber durch den Brand der lang dauernden Fieber sind die Glieder vertrocknet; und erst muß reichlich Salböl ihnen wieder eingegossen werden, erst müssen sie erfrischt werden durch milde Linderungsmittel, erst müssen Arzneien ihnen aufhelfen, ehe sie zur vollen Gesundheit gelangen können. So ist es mit dem Fasten. Ob wohl es die Krankheit der Laster vertreibt, ausschneidet die Leidenschaften des Fleisches, die Ursachen der Sünden entfernt, so vermag es doch ohne das Öl der Barmherzigkeit, ohne das Wasser der Liebe, ohne die Aufwendung von Almosen nicht, dem Geiste volle Gesundheit zu verleihen. Das Fasten heilt die Wunden, die die Sünde geschlagen; aber die Narben der Wunden werden erst durch die Barmherzigkeit entfernt, wie der Herr sagt: „Gebt Almosen und seht; alles ist euch rein!“6 . Das Fasten ist das beste Mittel, die Laster auszurotten, die Verbrechen auszureißen, es bestellt den Acker des Geistes und des Leibes für gute Frucht; aber wenn nicht die S. 328Barmherzigkeit als Fundament gelegt ist, ist der Eifer des Fastenden nur gleich der Arbeit eines Greises. Das Fasten ist das Opfer der Heiligkeit, der Keuschheit; aber ohne den Weihrauch der Barmherzigkeit kann es nicht aufsteigen zu dem Antlitz Gottes zum lieblichen Geruche. Was die Seele für den Leib, das ist, wie alle wissen, die Barmherzigkeit für das Fasten. Wenn das Fasten Leben gewinnt aus der Barmherzigkeit, dann verschafft es das Leben dem Fastenden. Das Fasten, das Schiff der Tugenden, bringt den Gewinn des Lebens, führt herbei den Lohn des Heiles. Aber wer hinausfährt auf die Wogen des Fleisches, wer die Fluten der Laster durchschneidet7 , wer hinüberfährt über die Gipfel der Verbrechen, wer vorbeifahren will an den Gestaden der Leidenschaften, der kann keine Tugenden vollbringen, der kann auch keinen Lohn darum empfangen für seine Tugenden, wenn er nicht einläuft in den Hafen der Liebe. Wer immer sich stehen sieht auf der schlüpfrigen Bahn dieses Lebens, wer erkennt, dass er den Weg des Fleisches geht, weil er gefallen ist, wer sieht, dass er dem Ansturm der Unwissenheit, den Fallstricken der Trägheit unterlegen ist, der soll dem Fasten sich unterziehen, aber im Bunde mit der Barmherzigkeit.
Das Fasten öffnet uns den Himmel, das Fasten führt uns zu Gott! Aber nur dann, wenn uns als Anwalt für unsere Angelegenheiten zur Seite stehen wird die Barmherzigkeit, können wir sicher sein der Vergebung, die wir ja unserer Unschuld nicht sicher sind, wie der Herr sagt: „Ein Gericht ohne Barmherzigkeit erwartet den, der nicht Barmherzigkeit geübt!“8 . Der Tag ist immer angenehm, aber angenehmer ist immer noch der sonnenbeglänzte Tag! Unser Fasten wird darum um so schöner, wenn wir unsere vierzigtätige Fastenzeit erhellen durch den Glanz der Barmherzigkeit. Der Herr ruft aus: „Ich will Barmherzigkeit!“9 . S. 329Mensch! Gib also Gott, was er will, wenn du willst, dass Gott dir gebe, was du willst! „Barmherzigkeit will ich!“ Gottes Stimme ist es, Gott fordert von uns Barmherzigkeit, und wenn wir sie geleistet haben, was wird er uns dann sagen? Das eben, was heute vorgelesen wurde: „Ich war hungrig und ihr gabt mir zu essen; ich war durstig und ihr gabt mir zu trinken“10 . Und was noch mehr? „Kommt ihr Gesegneten meines Vaters, und besitzet das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!“11 . Wer dem Hungrigen sein Brot bricht, gibt sich selbst das Himmelreich! Der aber wird sich die Quelle des Lebens versiegen machen, der dem Durstigen den Wasserbecher verweigert! Aus Liebe zu den Armen verkauft Gott sein Reich, und damit jeder Mensch es sich kaufen könne, bietet er es an für den Preis eines Stückleins Brot. Weil er wollte, dass alle es erhalten sollten, setzt er den Preis nur so gering, als der Mensch, wie er selbst wohl weiß, bieten kann. Gott verkauft sein Reich um ein Stücklein Brot; wer könnte den entschuldigen, der es nicht kauft, wo ihm zum Ankläger ist die Geringfügigkeit des Kaufpreises! Brüder! Unser Mahl sei die Ernährung des Armen, damit der Tisch Christi auch unser Tisch werde, wie er verheißen hat, als er sprach: „Ihr werdet essen an meinem Tische in meinem Reiche“12 . Brüder! Unser Fasten soll sein ein Leckerbissen für den Armen, damit unser zeitliches Fasten sich wandeln könne für uns in ein ewiges Mahl! Mensch, du gibst dir, wenn du dem Armen gibst; denn was du dem Armen nicht gibst, wird ein anderer einheimsen; dir wird nur das bleiben, was du dem Armen gibst!
es ist mit Januel tetrae statt terrae zu lesen ↩
Röm 7,18 ↩
Ebd 7,19 ↩
d. h. die Begierde reizt ihn noch mehr, als notwendig ist, zu verlangen, wie das Folgende zeigt ↩
ich lese fugare statt fugere wegen des voraufgehenden superare und des nachfolgenden vitare ↩
Lk 11,41 ↩
Scindit vitiorum fluctus; vgl. Verg. Aen. X. 765 per stagna viam scindens; Ovid. Met. XI,468 scindunt freta ↩
Jak 2,13 ↩
Os. 6,6 ↩
Mt 25,35 ↩
ebd 25,34 ↩
Lk 22,30 ↩
