Sechzigster Vortrag: Vom Ärgernis.
S. 330Wenn der Krieg ausbricht, werden die Wachtposten unter die Krieger stets verteilt, damit Überfall und List nicht schaden können; denn der ge fährlichste Feind ist ja der, welcher plötzlich kommt, weil er die Unwissenden überrascht, die Ahnungslosen überfällt, die Schlafenden überwindet. Deshalb hat Christus, unser König, für die ganze Nacht dieses irdischen Lebens schon vorher, von Ewigkeit her, unter seine Krieger die einzelnen Wachtposten verteilt und sie alle ermahnt gegen des Teufels, d. i. des alten Feindes1 , scharfsinnigste Listen, gegen die geheimen Angriffe der Laster, gegen die Anstürme der feindlichen Verbrechen, gegen die Ärgernisse, die uns aus so vielen Ursachen entstehen, gegen die Lockungen dieses Lebens, gegen die verheerenden Schlachtreihen der irdischen Drangsale, indem er uns also mahnt: „Wachet und betet, damit ihr nicht in Versuchung fallet!“2 . Und er verteilt auch die Wachtposten, indem er hinzufügt: „Und wenn er in der zweiten Nachtwache kommt und wenn er zur dritten Nachtwache kommt und sie so antrifft, selig sind jene Knechte3 , die der Herr, wenn er kommt, wachend an triff!“4 . Ja, wahrhaft selig sind sie, weil sie, die wachsam sind und den Anschlägen der Feinde zuvorkommen, verherrlicht werden bei der Ankunft des Herrn. Heute aber5 hat der Herr sogar unsere Führer als Wachtposten gegen die Feinde ausgestellt und ausgerüstet, indem er zu den Jüngern spricht: „Es ist unmöglich, dass Ärgernisse nicht kommen“6 , d. h. es ist unmöglich, dass Feinde nicht kommen! S. 331Und zuerst nun, Brüder, müssen wir wissen, was Ärgernisse sind. Es gibt drei verschiedene Arten von Ärgernissen: Die ersten sind die, die der Betrug des Teufels gebiert; die zweiten die, die aus der Verschlagenheit der Menschen entstehen; die dritten die, die in uns selbst erzeugt unsere übeldenkende und leichtsinnige Natur. Vom Teufel stammen jene, die durch äußere Täuschung uns etwas Gutes vorspiegeln, während sie in Wirklichkeit uns nur Übles zufügen, wie er auch an Adam getan hat, als er uns die Menschlichkeit raubte, während er uns die Göttlichkeit in Aussicht stellte7 , und ebenso, als er durch Petrus sprach: „Das soll dir nicht geschehen, Herr!“8 .
Er will ihm den Triumph des Kreuzes nehmen, indem er ihm vorlügt, in starker Liebe zu ihm entflammt zu sein. Denn als der Herr von der Herrlichkeit sprach, die er durch sein Leiden erhalten werde, sprach er durch Petrus: „Das soll dir nicht geschehen, Herr!“ Welch süßes Gift der Schlange! Sie will den Soldaten veranlassen, dem Könige den Sieg streitig zu machen, noch bevor der Knecht den Herrn selbst verleugnete. Daher schickt der Herr den Knecht hinter sich, schleudert das Ärgernis auf den Urheber zurück, indem er zu Petrus spricht: „Tritt hinter mich!“ und zu dem Teufel9 : „Satan, du bist mir ein Ärgernis!“ Und in der Tat geht Petrus hinter dem Herrn, weil er, um ihm zu folgen in den Himmel, das umgekehrte Kreuz bestieg. Ein ähnliches Ärgernis ist auch dieses, wodurch der Teufel die Juden verführte. Denn er hat den Stein, der gesetzt war, um den Weg zu festigen10 , ganz aufgewühlt und aufgerichtet zum scharfen Stein des Anstoßes und gat so den Fels des ganzen Fundamentes verwandelt in den Stein des Ärgernisses, damit er den unglücklichen [Juden] sei zum Untergange. „Siehe“, heißt es, „ich S. 332setze in Sion den Stein des Anstoßes und den Fels des Ärgernisses“11 . Darum bittet auch der Psalmist in ängstlichem Flehen: „Bewahre mich vor der Schlinge, die sie mir gelegt haben, und vor dem Ärgernis derer, die Gottlosigkeit üben!“12 . Und weil er den Stein des Anstoßes glücklich übersprungen hat, weil er das Ärgernis überwunden hat, rühmt er sich also: „Auf dem Fels hast du mich erhöht und mich hinaufgeführt, denn du warst meine Hoffnung!“13 Von der ersten Art des Ärgernisses haben wir nun geredet; wir wollen auch über die zweite Art sprechen, die, wie wir gesagt haben, entsteht aus der Verschlagenheit der Menschen. Ein solches Ärgernis bereitete dem israelischen Volke der Seher Balaam, als er den Kämpfern nicht mit geharnischten Männern, sondern mit einer Schar von Mädchen entgegentrat, die geschminkt waren mit allen Lockmitteln der Hurenkunst14 um die Waffen stumpf zu machen durch Schwelgerei, den Triumph zu wandeln in Schande und in Sünden zu stürzen die, die die Sünde selbst rächen sollten, ja mit einem Worte: um die Heiligkeit in ihrer ganzen Größe durch die Schande zu entweihen.
Darum hat Moses ihn bestraft mit diesem Verdammungsurteil: „Und den Balaam, den Seher tötet, denn er hat Ärgernis gegeben den Söhnen Israels!“15 . Ein Ärgernis bereitete auch Jeroboam, der aus Gold Kälber anfertigte und dieses erbärmliche Trugbild dem Volke als Götter aufstellte16 , damit es kein Verlangen mehr trage nach dem lebendigen Gott, dem wahren Tempel, dem Gesetze Gottes, dem rechtmäßigen König, den von den Vätern ererbten religiösen Gebräuchen. So gibt auch das im Irrtum befangene Volk Ärgernis nach dem Worte des Apostels17 , wenn einer ißt von dem, was den Göttern geopfert ist, als schade S. 333es ihm nichts, und glaubt, dass dadurch die gefühllosen Steine, die hölzernen Götzen, die weder etwas heiligen noch entweihen18 können, verächtlich gemacht werden müßten! Aber was dieser Mensch als einen Erweis des Glaubens ansieht, wird den Unwissenden Anlaß zum Irrtum; denn er reizt die Unwissenden nicht zur Verachtung, sondern zur Verehrung [der Götzen], und er läßt dem Unkundigen das als ein religiöses Mahl erscheinen, was er nach seiner Meinung genießt in der Absicht [sie] zu verspotten. Daher folgert mit Recht der Apostel und erklärt: „Und der schwache Bruder, um dessentwillen Christus starb, wird durch deine Erkenntnis zugrunde gehen“19 .
Die dritte Art des Ärgernisses sind die, die aus unserem eigenen Sinnenleben entstehen, wenn wir durch unsere Augen uns blenden, durch unsere Ohren uns täuschen, durch den Geruch uns gefangen nehmen, durch den Geschmack uns beflecken lassen. So ist ja auch Eva sowohl durch den Genuß der verbotenen und todbringenden Speise als auch durch den Anblick derselben ins Verderben gebracht worden. „Und es sah“, heißt es, „das Weib, dass die Frucht gut zu essen und angenehm für die Augen war, und dass es eine Lust sei, sie anzuschauen“20 . Mit Recht also fügt der Herr hinzu, dass unsere eigenen Sinne uns Ärgernis bereiten, indem er sprach: „Wenn dich dein Auge oder deine Hand ärgert, hau sie ab und wirf sie von dir; denn es ist besser, dass du ohne Auge und Hand zum Leben gelangst, als mit dem ganzen Leibe in die Hölle eingehest“21 . Und wie uns der Herr durch ein solches Gebot mahnt, unsere Fehler und Laster auszureißen, nicht aber unsere Glieder, so hätte auch Eva, die Mutter des Menschengeschlechtes22 , wenn sie so gehandelt hätte, besser getan, ohne Augen und ohne Hand ins Leben einzugehen S. 334als ihre ganze Nachkommenschaft in den beklagenswerten Tod zu stürzen. Wir müssen uns also, Brüder, ebenso hüten andern Ärgernis zu geben, als auch uns selbst nicht dadurch verführen lassen, wenn ein anderer uns ein Ärgernis bereitet. Das Ärgernis täuscht die Sinne, verwirrt den Geist, trübt die Reinheit der Erkenntnis. Das Ärgernis macht aus dem Engel einen Teufel, aus dem Apostel einen Verräter; das Ärgernis brachte die Sünde in die Welt; führte den Menschen zum Tode. Höre, was der Herr sagt: „Wehe der Welt um der Ärgernisse willen!“23 . Das Ärgernis versucht die Heiligen, schwächt den Vorsichtigen, bringt zu Fall die Arglosen, stürzt alles in Verwirrung, bringt alle in Unordnung. Und wenn auch an dieser Stelle der Herr von dem Ärgernis seines Leidens spricht und den Judas als den bezeichnet, durch den das Ärgernis der Ärgernisse gekommen sei, so ermahnt er doch auch uns, dass keiner in dieses Ärgernis geraten soll, wenn er sagt: „Es ist unmöglich, dass Ärgernisse nicht kommen. Aber wehe dem, durch den sie kommen! Es wäre ihm besser, dass ein Mühlstein ihm an den Hals gehängt und er in die Tiefe des Meeres versenkt würde, als dass er eines von jenen Kleinen ärgerte“24
Warum aber sagt er nicht: ein [einfacher] Stein, sondern ein Mühlstein? Weil der Mühlsein dadurch, dass er die Körner zerreibt, das Mehl bereitet, die Kleie scheidet von dem feinen Mehl, den getreuen Arbeitern das Brot bereitet. Ganz entsprechend wird nun dem, der es vorzieht, ein Knecht des Ärgernisses statt des Friedens zu sein, ein Mühlstein an den Hals gehängt, damit gerade das ihn in den Tod hinabziehe, was ihn am Leben hätte erhalten sollen! Denn die Sinne, die ihm zum Leben gegeben waren, hat er zum Ärgernis des Todes verwendet, indem er [der Versucher] etwas anderes zu sehen, zu hören, zu empfinden, zu schmecken ihm riet, als was in Christus war und zur Wissenschaft des Heiles ihm diente. S. 335Daher machte er auch den Eckstein25 , den Stein der Hilfe26 , den Stein, der ohne Menschenhände losgerissen ist27 , der da ist Christus, umgekehrt zum Ärgernis der Kleinen, dass er ihnen nicht das Brot des Lebens, sondern das Brot der Tränen und des Schmerzes bereitete, wie der Prophet bezeugt, der da spricht: „Ihr, die ihr esset das Brot des Schmerzes“28 . Wohl also verdient er, wie es an der andern Stelle heißt, „dass ein 'Eselsstein'29 ihm an den Hals gehängt werde“30 , dass er von demselben Tiere, von dem er die Gesinnung nahm, auch die Strafe erleide, und dass er so dem unvernünftigen Tiere gleich geachtet werde, da er den nach dem Himmel strebenden Menschen nicht gleich geachtet werden wollte.
vgl. Offb 12,9 ↩
Mt 26,41 ↩
Lk 12,38 ↩
ebd 12,37 ↩
es ist autem statt tamen bei Migne zu lesen ↩
Lk 17,1 ↩
Gen 3,5 ↩
Mt 16,22 ↩
ebd 16,23. Nach dem Text der Schrift ist eine solche Beziehung auf den Teufel unmöglich ↩
d. i. Christus ↩
Is 8,14; Lk 2,34 ↩
Ps 140. 9 ↩
Ps 60,3f. ↩
vgl. Num 31,16; vgl. Offb 2,14 ↩
vgl. Num 25,17; 31,2. 8 ↩
3 Kön 12,26 ff. ↩
1 Kor 2,12 ↩
ich lese mit Migne polluere wegen des Gegensatzes zu sanctificare statt pollere, wie Pauli hat ↩
1 Kor 8,11 ↩
Gen 3,6 ↩
Mt 5,29 f.;18,8 f. ↩
Gen 3,20 ↩
Mt 18,7 ↩
Lk 17,1 f. ↩
Is 28,16 ↩
1 Kön 7,12 ↩
Dan 2,45 ↩
Ps 126,2 ↩
mola asinaria ↩
Mt 18,6 ↩
