1.
Wer wird meinem Haupte Wasser, meinen Augen einen Tränenquell geben, damit ich weinen kann — nicht, wie Jeremias sagt, über die Verwundeten meines Volkes, 1 auch nicht mit Jesus über Jerusalems Unglück. 2 Nein, ich will weinen über die Heiligkeit, die Barmherzigkeit, die Unschuld, die Keuschheit. Ich will in einer Person, die von uns ging, alle Tugenden in gleichem Maße beweinen, nicht als ob wir um die Dahingeschiedene trauern müßten, sondern weil unser Schmerz gerade dadurch so unerträglich wird, daß wir ausgerechnet sie nicht mehr unter uns sehen dürfen. Wer kann sich trockenen Auges daran erinnern, wie diese junge Frau von zwanzig Jahren das Banner des Kreuzes hochhielt, so daß ihr der Verlust ihrer Jungfräulichkeit schwerer fiel als der ihres Gatten? Wer könnte ohne Schluchzen vorübergehen an der Standhaftigkeit ihres Gebetes, an dem Glanze ihrer Sprache, an der Zähigkeit ihres Gedächtnisses, an der Schärfe ihres Geistes? Hörtest Du sie griechisch sprechen, so hättest Du geschworen, daß sie kein Latein versteht. 3 Bediente sie sich der Sprache Roms, so verriet ihr Ausdruck auch nicht den geringsten fremden Beigeschmack. Während S. b14 der berühmte Origenes, worüber sich ganz Griechenland wundert, in wenigen Monaten Hebräisch lernte, überwand sie in wenigen Tagen die Schwierigkeiten der hebräischen Sprache, so daß sie im Erlernen und Singen der Psalmen mit ihrer Mutter wetteifern konnte. Hinter ihrem schlichten Nonnenkleide versteckte sich nicht, wie es recht häufig der Fall ist, hoffärtige Gesinnung, sondern ihre Demut kam von Herzen. Zwischen ihren jungfräulichen Dienstboten und ihr gab es in der Kleidung keinen anderen Unterschied als höchstens den, daß sie noch bescheidener auftrat. Nach überstandener schwerer Erkrankung war ihr Schritt unsicher, und der zarte Hals konnte das blasse und zitternde Gesicht kaum tragen. Trotzdem hielt sie immer einen Propheten oder das Evangelium in Händen. Meine Augen füllen sich mit Tränen, vor lauter Schluchzen erstickt meine Stimme, und die seelische Erregung vermag nicht, meine stockende Zunge zu lösen. Als die Fieberhitze ihren schwachen Leib ausdörrte und der Kreis der Verwandten das Lager der dem Tode Geweihten umstand, da lautete ihr letzter Wunsch: „Bittet den Herrn Jesus, daß er mir verzeihe, weil ich meinen Entschluß nicht mehr ausführen konnte!“ Beruhige Dich, meine Blesilla, wir leben in fester Zuversicht. Du selbst wirst als wahr erfahren haben, wenn wir sagen: „Eine Bekehrung kommt niemals zu spät.“ 4 Der Schacher war der erste, bei dem das Wort zu Ehren kam: „Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese sein!“ 5 Nachdem sie die Last des Fleisches abgelegt hatte, die Seele zu ihrem Schöpfer zurückgeflogen und nach langer Wanderung zu ihrer ursprünglichen Heimat zurückgekehrt war, wurde die gebräuchliche Leichenfeier veranstaltet. Die Reihen der Adeligen gingen vorauf, und eine golddurchwirkte Hülle breitete sich über der Bahre aus. Mich deuchte es, als riefe sie vom Himmel herab: S. b15 „Dieses Gewand ist nicht das meine; diese Umhüllung gehört mir nicht; solcher Pomp ist mir fremd!“
Jer. 9, 1. ↩
Luk. 19, 41. ↩
Die Kenntnis der griechischen Sprache war damals in Rom selten. Auch Hieronymus und Rufin erlernten sie erst im Orient (Rufin c. Hier. II 7 — M PL XXI 590 f.). Pammachius und Oceanus bedurften einer lateinischen Übersetzung der Schrift des Origenes „περὶ ἀρχῶν“ (vgl. ep. 83 ad Hier.). Eusebius von Cremona war nicht imstande, den Brief des Bischofs Epiphanius zu verstehen (vgl. ep. 57, 2 ad Pamm.). Auch Paulinus von Nola klagt über mangelhafte Kenntnis des Griechischen (ep. 46, 2 ad Rufinum M PL LXI 397). Vielleicht hing Blesillas Kenntnis des Griechischen damit zusammen, daß ein bedeutender Teil des Familienbesitzes in Epirus lag (Prol. in comm. in Titum — M PL XXVI 590). ↩
Cyprian, Ad Demetr. 25 (BKV XXXIV 226). ↩
Luk. 23, 43. ↩
