1.
Seinen wahrhaft heiligen Gebietern, seinen in aller Freundschaft und Liebe zu ehrenden Kindern Marcellinus und Anapsychia entbietet Hieronymus Heil in Christus.
Endlich ist Euer Brief aus Afrika, den Ihr mir gemeinsam geschickt habt, angekommen. Ich bereue meine Unbescheidenheit nicht, mit der ich, da Ihr Euch ständig in Schweigen hülltet, immer wieder schrieb. Denn ihr verdanke ich die erhaltene Antwort. So kann ich doch Euren eigenen Worten, ohne es von anderen erfahren zu müssen, entnehmen, daß Ihr noch wohlauf seid. Ich erinnere mich noch Eurer kleinen Anfrage über den S. b194 Ursprung der Seelen oder genauer über das in kirchlichen Kreisen viel behandelte Problem: Steigen die Seelen vom Himmel herab, wie der Philosoph Pythagoras, die gesamten Platoniker und auch Origenes glauben? 1 Sind sie ein Ausfluß des göttlichen Wesens, wie die Stoiker, 2 die Manichaer 3 und die aus Spanien kommende Irrlehre der Priszillianisten 4 vermuten? Hat sie Gott am Anfange erschaffen und in seiner Schatzkammer aufbewahrt für den jeweiligen Bedarf, wie einige törichte Katholiken behaupten? 5 Werden sie täglich von Gott erschaffen und den einzelnen Leibern zugeteilt, heißt es ja im Evangelium: „Mein Vater wirkt bis zur Stunde, und ich wirke auch?“ 6 Stammen sie endlich aus einem Ableger, wie Tertullian, 7 Apollinaris und der größte Teil der Abendländer annehmen? Es würde dann die Seele aus der Seele entstehen wie der Leib aus dem Leibe, so daß zwischen ihr und den stofflichen Lebewesen kein Unterschied wäre. Soweit ich mich S. b195 erinnere, habe ich meine Auffassung vor langer Zeit in meinen Schriften gegen Rufin dargelegt als Antwort auf die Schrift, 8 die er an Anastasius seligen Andenkens, 9 den Bischof der römischen Kirche, gerichtet hat. In diesem Buche hat er sich wegen seines Glaubens oder richtiger wegen seines Unglaubens lächerlich gemacht, indem er in einem zweideutigen, hinterhältigen und ausgesprochen törichten Bekenntnis die Unerfahrenheit seiner Hörer mißbrauchen wollte. Wie ich glaube, besitzt der heilige Oceanus, der ja mit Euch verwandt ist, 10 diese Bücher. Es ist nämlich schon lange her, daß die Bücher Rufins, die allerhand Verleumdungen gegen mich ausspieen, an viele ausgehändigt worden sind. In Eurer Nähe weilt ja der heilige und gelehrte Bischof Augustin, der Euch mündlich 11 Bescheid geben und seine, damit aber auch meine Auffassung Euch darlegen kann.
Pythagoras lehrte die Seelenwanderung. Plato vertrat die Präexistenz der menschlichen Seele, die infolge einer Verschuldung später in den menschlichen Leib verbannt wurde. Diese Lehre nahm Origenes auf, der sie in ein christliches Gewand kleidete und die Seelen den gefallenen Engeln gleichsetzte. ↩
Für die Stoiker ist die menschliche Vernunft ein Ausfluß (ὰπόῤῥοια) der Gottheit selbst. ↩
Vgl. S. 218 Anm. 3. ↩
Die den Manichäern geistesverwandten Priszillianisten vertreten eine Präexistenz der Seelen mit einem sittlich reinen Vorleben. ↩
Hieronymus denkt an Origenes (vgl. Contra Joan. Hier. 7, 16). Auch Nemesius von Emesa vertrat die hier getadelte Auffassung (De natura hominis 2. M PG XL 572 ff.; vgl. auch B. IV 277). S. auch Gregor von Nyssa, De hominis opificio 28 (M PG XLIV 230). ↩
Joh. 5, 17. ↩
Tertullian setzt sich für den Generatianismus in der Form des Traducianismus ein. Nach ihm geht im Zeugungsakte die Seele des Kindes gleichsam durch einen Ableger (tradux) aus der Seele der Eltern hervor. Im Orient verfocht Apollinaris von Laodicea (vgl. S. 116 Anm. 5) die gleiche Lehre. ↩
Hieronymus spricht wiederholt in seiner Schrift gegen Rufin, die etwa zehn Jahre älter ist, über das Problem der Seele (Contra Ruf. II 8 f.; III 28. 30). Eingehender tat er es aber noch einige Jahre früher in seinem Buche gegen Johannes von Jerusalem (15—22), wo er für den Creatianismus eintritt. ↩
Apologia ad Anastasium Romanae urbis episcopum (M PL XXI 623 ff.). ↩
Oceanus und auch die später genannte jüngere Fabiola scheinen wegen der Ereignisse des Jahres 410 nach Afrika geflüchtet zu sein. ↩
„Viva, ut aiunt, voce.“ (Tert., De praescript. haeret. 21; BKV XXIV 326). ↩
