Zehnter Artikel. In der höheren Vernunft kann als solcher, insoweit sie nämlich auf die ewigen Seinsgründe blickt, eine läßliche Sünde sein.
a) Dies scheint unmöglich. Denn: I. Die Thätigkeit eines Vermögens wird nicht als mangelhaft erfunden, außer insofern sie sich ungeregelt verhält zum Gegenstande des Vermögens. Der Gegenstand der höheren Vernunft aber sind die ewigen Seinsgründe. Ist also die Beziehung selber zu ihnen eine ungeregelte, so kann da nur eine Todsünde sein; denn das bedeutet Abwendung von ihnen. II. Die Thätigkeit der Vernunft ist immer zusammen mit Überlegung. Jede ungeregelte Bewegung aber in dem, was unmittelbar Gottes ist, falls sie sich mit Überlegung vollzieht, ist Todsünde. Also in der höheren Vernunft, deren Gegenstand ja unmittelbar das göttliche Gesetz ist, kann keine läßliche Sünde sein. III. Bisweilen ist eine Sünde aus Unbedacht eine läßliche. Die überlegte Sünde aber ist dadurch Todsünde, daß die überlegende Vernunft auf ein größeres Gut thatsächlich Rücksicht nimmt; und der Mensch demgemäß, wenn er gegen dieses sündigt, schwerer sündigt. So sündigt die Vernunft, welche über eine ungeordnete ergötzliche Thätigkeit nachdenkt, schwerer, wenn sie dieselbe billigt, trotzdem sie das göttliche Gesetz in Erwägung gezogen hat; als wenn sie bloß erwogen hätte, daß diese ergötzliche Thätigkeit gegen eine moralische Tugend sei. Die höhere Vernunft aber kann zu nichts Höherem ihre Zuflucht nehmen wie zu ihrem Gegenstande. Wenn also eine Bewegung oder Thätigkeit, welche aus Voreiligkeit geschieht, keine Todsünde ist, so würde auch die Überlegung, die hinzutritt, sie nicht zu einer solchen machen; denn es gäbe kein größeres Gut, in Vergleich zu dem die Sünde schwerer würde nach der Überlegung; — was falsch ist. Also kann in der höheren Vernunft, insoweit dieselbe das göttliche Gesetz zum Gegenstande hat, keine läßliche Sünde sein. Auf der anderen Seite ist eine voreilige Bewegung zum Unglauben hin eine läßliche Sünde. Diese gehört aber der höheren Vernunft als solcher an. Also kann da läßliche Sünde sein, insoweit die höhere Vernunft gerade ihren eigensten Gegenstand hat.
b) Ich antworte, die höhere Vernunft richte sich auf die Gegenstände der niederen Kräfte, nur insoweit sie ihrethalben die ewigen Seinsgründe befragt. Also richtet sie sich auf dieselben nur nach der Weise der Überlegung. Die überlegte Zustimmung aber in dem, was der „Art“ nach Todsünde ist, ist ebenso Todsünde. Und sonach sündigt die höhere Vernunft immer schwer, wenn die Thätigkeiten der niederen Kräfte, denen sie zustimmt, Todsünden sind. Nimmt man aber Rücksicht auf den eigensten Gegenstand der Höheren Vernunft, so bestehen hier zwei Thätigkeiten: nämlich 1. das einfache Anschauen und 2. die überlegende Erwägung, gemäß der sie über den vorliegenden Gegenstand die ewigen Gesetze befragt. Nach dem einfachen Anschauen nun kann jemand betreffs der göttlichen Dinge eine ungeregelte Bewegung haben; wie z. B. wenn jemand eine plötzliche Bewegung zum Unglauben hin in sich spürt. Und obgleich nun der Unglaube der „Art“ nach Todsünde ist, so ist doch diese plötzliche, voreilige Bewegung nichts als läßliche Sünde; da die Todsünde nur gegen das Gesetz Gottes sich richtet. Es kann auch etwas von dem, was zum Glauben gehört, der Vernunft unter einem bisher fremden, unerwarteten Gesichtspunkte entgegentreten, ehe darüber das ewige Gesetz befragt wird; wie wenn jemand plötzlich die Auferstehung des Fleisches als unmöglich auffaßt gemäß der Natur und zu gleicher Zeit dagegen ankämpft, ehe er Zeit zu dieser weiteren Erwägung hat, das sei uns ja überliefert als Glaubensartikel gemäß dem göttlichen Gesetze. Bleibt freilich nach der Erwägung dann diese Bewegung zum Unglauben hin, so ist sie Todsünde. Also gegenüber dem ihr eigenen Gegenstande kann die höhere Vernunft, auch wenn es sich um eine Todsünde der „Art“ nach handelt, läßlich sündigen infolge plötzlich aufsteigender Bewegungen, die freilich, so sie nach der Überlegung bleiben, Todsünden werden. Den Gegenständen der niederen Kräfte gegenüber jedoch sündigt sie immer schwer in dem, was der „Art“ nach Todsünde ist; nicht aber in dem, was der „Art“ nach läßlich ist.
c) I. Die Sünde ist läßlich, weil der Akt unvollkommen ist; nicht weil die Sünde, in der „Art“ betrachtet, nicht Todsünde wäre. II. Die Vernunft hat 1. Überlegung und 2. einfaches Anschauen; wie im Bereiche des Spekulativen der Vernunft es eigen ist, zu schließen und Sätze zu bilden. Und so können auch der Vernunft plötzliche Bewegungen zukommen. III. Ein und derselben Sache können verschiedene Erwägungen zukommen, von denen die eine höher ist wie die andere. So z. B. kann man betrachten das Dasein Gottes als erkennbar durch die menschliche Vernunft, oder in höherer Weise als geoffenbart durch den Glauben. Obgleich also der Gegenstand der höheren Vernunft etwas seiner Natur nach Höchstes ist, so läßt es sich doch wieder auf eine höhere Betrachtungsweise zurückführen; und so wird, was als plötzliche Bewegung läßlich war, zur Todsünde, wenn bie überlegende Erwägung es auf eine höhere Betrachtungsweise zurückführt.
