Sechster Artikel. Die Ordnung in den zehn Geboten ist eine zukömmliche.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die Liebe des Nächsten kommt eher wie die Gottes, nach Joh. 4.: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht; wie soll er Gott lieben, den er nicht sieht!“ Also müßten die sieben letzten Gebote zuerst kommen. II. Durch die affirmativen Gebote werden Tugendakte befohlen, durch die negativen lasterhafte Akte verboten. Zuerst aber sind nach Boëius (4. in Praedic.) „die Laster auszurotten, ehe man Tugenden pflanzt.“ Also mußten vor den affirmativen Geboten die negativen kommen. III. Die Gebote richten sich auf die menschlichen Thätigkeiten. Früher aber ist da die Thätigkeit des Herzens wie die des Mundes oder die äußere. Also mußten zuerst kommen die Gebote, welche sich auf den Gedanken oder das Begehren des Herzens richten. Auf der anderen Seite sagt der Apostel (Röm. 13.): „Was von Gott kommt, das ist geordnet.“
b) Ich antworte, die zehn Gebote betreffen dies, was dem Menschen sogleich in den Gedanken kommt. Offenbar aber wird etwas um so eher von der Vernunft aufgenommen als das Gegenteil davon der Vernunft zuwider ist. Da nun die Ordnung, welche der Vernunft entspricht, vom Zwecke ausgeht, so ist am meisten der Vernunft zuwider, daß der Mensch nicht geregelt sei mit Bezug auf den Zweck. Der Zweck aber der menschlichen Gemeinschaft und des menschlichen Lebens ist Gott. Also mußten die zehn Gebote zuerst das Verhältnis zu Gott regeln, da das Gegenteil davon der Vernunft in erster Linie zuwider ist. So ist es auch im Heere, das zum Führer in Beziehung steht wie zu einem Zwecke, das Erste, daß der Soldat dem Heerführer Unterthan sei; und das Gegenteil davon ist der schwerste Fehler. Dann erst kommt es, daß er zu den anderen Teilen des Heeres in guten Verhältnissen stehe. Im Bereiche der Beziehungen zu Gott aber ist die erste die, daß der Mensch keine Gemeinschaft habe mit fremden Göttern, sondern seinem Gotte treu bleibe; die zweite, daß er Ihn ehre; die dritte, daß er Ihm diene. Denn größer ist der Fehler im Soldaten, wenn er mit den Feinden treulos sich verträgt, als wenn er dem Heerführer grob begegnet; und das ist wieder schwerer als wenn er in einem ihm aufgetragenen Dienste nachlässig befunden wird. Mit Rücksicht auf den Nächsten aber ist es in erster Linie det Vernunft zuwider, wenn der Mensch die gebührende Beziehung zu jenen nicht einhält, denen gegenüber er am meisten Schuldner ist. Deshalb ist da das erste Gebot jenes wegen der Eltern. Sodann ist es schwerer, im Werke zu sündigen wie mit dem Munde; und schwerer ist dies wieder, wie im Herzen zu sündigen. Und in der ersten Klasse ist wieder vernunftwidriger der Mord, durch den das Leben eines Menschen ausgelöscht wird, als der Ehebruch, durch den gehindert wird die Gewißheit der Nachkommenschaft; und dieser ist wieder schwerer wie der Diebstahl, der nur auf den äußeren, Besitz sich richtet.
c) I. Nach dem Sinne mag der Nächste näher stehen wie Gott. Aber die Liebe zu Gott ist der Grund für die Liebe des Nächsten. II. Wie Gott das Princip des gesamten All ist, so ähnlich ist der Vater ein gewisses Princip für das Sein der Kinder. Also zukömmlicherweise kommt hinter den Geboten, die auf Gott sich richten, das Gebot rücksichtlich der Eltern. Der Einwurf wäre in etwa, nicht durchaus berechtigt, wenn es sich um ein und dieselbe „Art“ von Werken handelte. Obgleich nämlich, soweit es die Ausführung eines Werkes anbelangt, zuerst das Fehlerhafte zu beseitigen ist, nach Ps. 33.: „Vermeide das Übel und thue das Gute;“ und Isai. 1.: „Höret auf. Verkehrtes zu thun, lernet gute Werke;“ so ist doch in der Erkenntnis früher die Tugend als das Böse, da „aus dem Rechten das Schiefe erkannt wird.“ 1. de anima. Durch das „Gesetz“ aber ist die Kenntnis der Sünde (Röm. 5.); und somit hätte hier immer noch das affirmative Gebot vor dem negativen gesetzt werden müssen. Der Grund jedoch für die hier beobachtete Ordnung liegt überhaupt nicht nach dieser Seite hin, sondern ist so, wie oben dargelegt worden. Auf der ersten Tafel nämlich kommt zuerst das negative Gebot und erst an dritter Stelle das positive; da die Schuld hier kleiner ist. III. Die Sünde im Herzen ist zuerst gemäß der Ausführung. Deren Verbot aber kommt später in den Gedanken.
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