Achter Artikel. Von den zehn Geboten kann man nicht dispensieren.
a) Dies scheint aber. Denn: I. Die zehn Gebote gehören zum Naturgesetz. Dieses aber ist in einzelnen Fallen veränderlich wie ebenso die menschliche Natur. (5 Ethic. 7.) Also ist dies auch mit den zehn Geboten der Fall; und kann sonach für einzelne Verhältnisse davon dispensiert werden. II. Der Mensch kann von den Gesetzen dispensieren, die er giebt; — also kann dies auch Gott mit seinen Gesetzen. Nun ist der geistliche Vorsteher Stellvertreter Gottes auf Erden, nach 2. Kor. 2.: „Denn auch ich habe, wenn ich etwas geschenkt oder nachgelassen habe, es nachgelassen namens der Person Christi.“ Also können die geistlichen Oberen von den zehn Geboten etwas nachlassen oder dispensieren. III. Vom fünften Gebote wird offenbar dispensiert; da die Menschen erlaubterweise Bösewichter und im Kriege die Feinde töten. IV. Von der Beobachtung des Sabbaths wurde nach 1. Makkab. 2. dispensiert: „Und sie dachten an jenem Tage und sprachen: Jeder Mensch, wer auch immer gegen uns kommt, um Krieg zu führen am Sabbath, wir werden kämpfen gegen ihn.“ Auf der anderen Seite tadelt Isaias (24, 5.) einzelne, „daß sie das Recht verändert haben, daß sie gebrochen haben den ewigen Bund;“ was in erster Linie von den zehn Geboten zu verstehen ist. Also ist in diesen nie etwas nachzulassen.
b) Ich antworte, dann dürfe in den Gesetzen dispensiert werden, wenn ein besonderer Fall eintritt, worin, sollte man da das Gesetz beobachten, die Absicht des Gesetzgebers vereitelt werden würde. Nun geht die Absicht des Gesetzgebers zuerst auf das Gemeinbeste; dann auf die Ordnung der Gerechtigkeit und der Tugend, wonach das Gemeinbeste bewahrt und zu selbigem gelangt wird. Giebt es also Gesetze, welche die Bewahrung und Aufrechthaltung des Gemeinbesten oder die Ordnung selber der Gerechtigkeit und der Tugend in sich schließen, so ist in ihnen offenbar die Absicht des Gesetzgebers enthalten; und es kann somit gar nicht von denselben dispensiert werden. So z. B. wenn in einem Staate dieses Gesetz aufgestellt würde, daß niemand den Staat zerstöre oder daß niemand den Staat an die Feinde verrate oder daß niemand etwas Ungerechtes oder Übles thäte; — solche Gesetze wären einer Dispens gar nicht fähig. Werden jedoch Gesetze gegeben, welche auf diese sich beziehen, wodurch für gewisse Fälle etwas bestimmt würde; von solchen Gesetzen kann man dispensieren, insoweit durch Mißachtung derselben den ersten nicht zu nahe getreten wird, in welchen die Absicht des Gesetzgebers enthalten erscheint; wie wenn z. B. für die Sicherheit einer Stadt bestimmt würde, daß auf jeder Straße einige wachen, so könnte bei manchen hier dispensiert werden, falls ein größerer Nutzen sich bemerklich machte. Die zehn Gebote aber enthalten die Absicht Gottes selber. Denn die Gebote der ersten Tafel schließen ein die Beziehung zu Gott, also zum Besten und zum Endzwecke. Die Gebote der zweiten Tafel aber schließen ein die Ordnung der Gerechtigkeit, die unter den Menschen zu beobachten ist; daß nämlich keinem unrecht geschehe und daß man seinen Verpflichtungen nachkomme. Und daher ist von den zehn Geboten eine Dispens nicht möglich,
c) I. Aristoteles spricht da nicht vom „Gerechten“ des Naturgesetzes, was da in sich enthält die Ordnung selber der Gerechtigkeit; das ändert sich nie, daß nämlich Gerechtigkeit zu beobachten ist. Vielmehr spricht er von einzelnen Fällen, wo man die Beobachtung der Gerechtigkeit mehr specifiziert hat; da ist eine Änderung möglich. II. Gott ist seine eigene Gerechtigkeit. Er würde Sich selbst verleugnen, wenn Er die Ordnung seiner Gerechtigkeit fortnähme. Das kann Er aber nicht, nach 2. Tim. 2.: „Gott bleibt getreu; Sich selbst verleugnen kann Er nicht.“ III. Die Tötung eines Menschen ist von den zehn Geboten verboten, soweit damit keine Verpflichtung verbunden erscheint; denn die zehn Gebote enthalten eben das Verhältnis, wie es von der Gerechtigkeit selber herkommt. Das menschliche Gesetz aber kann nicht zugeben, daß erlaubterweise ein Mensch ohne Verschuldung getötet werde. Übelthäter jedoch töten oder Feinde des Vaterlandes; das ist nicht ohne Verschulden. Das ist also kein Mord, wie ihn das fünfte Gebot verbietet, nach Augustin. (1. de lib. arbitr. 4.) Ähnlich wenn jemandem das Seinige weggenommen wird, wo er schuldig ist, es zu verlieren, das ist kein Diebstahl. Als demnach die Israeliten das Gold und Silber der Ägypter mitnahmen, so war dies kein Diebstahl; denn dies war ihnen nach dem Ausspruche Gottes geschuldet. Auch Abraham hatte keinen Mord in seiner Absicht, da er Isaak töten wollte; denn der Herr über Leben und Tod hatte so geboten. Auch Oseas beging keinen Ehebruch, als er mit der Frau eines anderen sich verband; denn diese Frau war sein geworden nach dem Urteile Gottes. So kann also von den zehn Geboten, soweit es auf das Gerechte ankommt, was sie enthalten, nie dispensiert werden. Aber soweit sie angewandt werden auf diesen oder jenen einzelnen Fall (ob nämlich dies oder jenes wirklich Mord, Ehebruch, Diebstahl sei), so kann eine Änderung eintreten bisweilen durch die Autorität Gottes, in dem nämlich, was Gott eingesetzt hat, wie in der Ehe u. dgl.; bisweilen auch durch die menschliche Autorität, in dem nämlich, was der menschlichen Gerichtsbarkeit überlassen worden. Denn mit Rücksicht darauf und nicht mit Rücksicht auf Alles sind dann die Menschen Stellvertreter Gottes. III. Dies war mehr ein Erklären des Gesetzes wie eine Dispens davon. Denn jener verletzt nicht die Sabbathsruhe, der etwas thut, was, für das menschliche Wohl notwendig ist; vgl. Matth. 12.
