Zehnter Artikel. Das göttliche Gebot und die Art und Weise, wie die Liebe darunter fallt.
a) Die Art und Weise, alle Werke aus Liebe zu thun, scheint unter die Vorschrift des göttlichen Gesetzes zu fallen. Denn: I. Matth. 19. heißt es: „Wenn du willst ins Leben eingehen, so halte die Gebote.“ Danach ist die Haltung der Gebote hinreichend, um in das Leben einzuführen. Die guten Werke aber genügen nicht für das ewige Leben, wenn sie nicht aus Liebe hervorgehen. Denn 1. Kor. 13. heißt es: „Wenn ich den Armen zur Speisung gebe all mein Vermögen; und wenn ich meinen Körper hingebe, daß er brenne; die heilige Liebe aber nicht habe, so nützt mir das nichts.“ Also ist die Art und Weise der Liebe als der Quelle aller Werke im Gebote inbegriffen. II. Zum Wesen der heiligen Liebe gehört es, daß Alles zur Ehre Gottes geschieht. Das aber fällt unter das Gebot, nach 1. Kor. 10.: „Alles thut zur Ehre Gottes.“ Also muß Alles aus Liebe geschehen. III. Was ohne Liebe geschehen kann, das kann ohne Gnade geschehen. Wenn also es nicht geboten ist, Alles aus Liebe zu thun, so kann jemand ohne die Gnade die Vorschriften des Gesetzes erfüllen. Das aber ist der Irrtum des Pelagius. Auf der anderen Seite sündigt schwer, wer das Gebot nicht beobachtet. Fällt also es unter das Gebot, Alles aus Liebe zu thun; und ist dies demnach die Art und Weise, das Gebot zu erfüllen, so sündigt jeder, der etwas thut, nicht aber aus Liebe, schwer. Wer aber die Liebe nicht hat, der wirkt nicht aus Liebe. Also wer die Liebe nicht hat, der sündigt schwer in jedem Werke, das er thut; ob auch das Werk selber in seiner „Art“ gut sei; — was unzulässig ist.
b) Ich antworte, in diesem Punkte seien die Autoren verschiedener Meinung. Denn manche sagen, die Liebe sei schlechthin für alles Wirken unter dem Gebote. Und es sei nicht unmöglich zudem, dieses Gebot zu beobachten für den, der keine Liebe hat; denn er kann das Seinige thun und sich vorbereiten, daß ihm die heilige Liebe eingegossen werde. Auch das sei nicht richtig, daß wer etwas an sich Gutes nicht aus Liebe thut daß dieser schwer sündigt. Denn es ist dies ein affirmatives Gebot, daß jemand aus Liebe wirke; und somit verpflichtet es nicht für immer, sondern für jene Zeit, wo jemand die heilige Liebe hat. Andere aber nehmen an, es sei dies durchaus kein Gebot, Alles aus Liebe zu thun. Beide Teile haben nach einer gewissen Seite hin recht. Denn der Liebesakt kann in doppelter Weise betrachtet werden: einmal, soweit er ein für sich dastehender Akt ist; und so fällt er unter jenes Gebot, welches speciell dafür gegeben worden, nämlich: „Du sollst Gott den Herrn lieben … und deinen Nächsten.“ Und mit Rücksicht darauf hat der erste Teil recht. Denn es ist nicht unmöglich, dieses Gebot der Liebe zu beobachten; weil der Mensch sich vorbereiten kann, um Liebe zu haben, und hat er sie, so kann er sich derselben bedienen. Dann kann der Liebesakt betrachtet werden, insoweit er die Art und Weise bildet, wie andere Tugendakte zu geschehen haben, d. h. insoweit die anderen Tugendakte zur Liebe Beziehung haben, die da ist „der Zweck des Gebotes.“ (I. Tim. 1.) Denn Kap. 12, Art. 4 wurde gesagt, daß die auf den Zweck gerichtete Absicht ist ein gewisses inneres Maß und eine Art und Weise des innerlichen Seins, welche den Akt auf den Zweck richtet. Und so ist wahr, was der zweite Teil der oben erwähnten Autoren annimmt, daß es kein Gebot ist, allen Werken die Seinsweise der Liebe zu geben, Alles demnach aus Liebe zu thun. Denn in diesem Gebote: „Ehre Vater und Mutter“, ist nicht eingeschlossen, daß dies aus Liebe geschehen; sondern nur, daß der Vater geehrt werden soll. Wer also den Vater ehrt, erfüllt dieses Gebot, wenn er es auch nicht aus heiliger Liebe, um Gottes willen, thut; obgleich er dann das Gebot der Liebe übertritt und deshalb Strafe verdient.
c) I. Der Herr hat nicht gesagt: „Willst du zum Leben eingehen, so halte ein einziges Gebot,“ sondern „die Gebote“, worunter auch das der Liebe ist. II. Das Gebot der Liebe Gottes bedingt, daß Alles auf Gott bezogen werde; wer Letzteres also nicht thut, der erfüllt nicht das Gebot der Liebe Gottes. Nicht also kraft des vierten Gebotes ist jemand gehalten, die Eltern um der Liebe Gottes willen zu ehren, sondern thut er es nicht aus diesem Beweggrunde, so verletzt er das Gebot der Liebe. Da diese beiden Gebote aber affirmativ sind, so kann jemand ganz wohl zu einer Zeit das vierte Gebot erfüllen, zu welcher er nicht gehalten ist, einen Akt der Liebe zu machen oder es aus Liebe zu thun. III. Alle Gebote des Gesetzes kann allerdings der Mensch nicht halten, wenn er nicht das Gebot der Liebe erfüllt, was ohne Gnade unmöglich ist. Deshalb ist es unmöglich, daß der Mensch ohne Gnade das Gesetz erfüllen kann; wie Pelagius meinte.
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