Fünfter Artikel. Die Aufzählung der zehn Gebote ist zukömmlich.
a) Die Aufzählung der zehn Gebote scheint nicht in gehöriger Ordnung zu sein. Denn: I. Die Sünden werden unterschieden in Sünden gegen Gott, gegen den Nächsten und gegen sich selbst. Da nun die Sünde eine „Übertretung ist des göttlichen Gesetzes, ein Ungehorsam gegen die himmlischen Gebote,“ so hätten auch Gebote da sein müssen, die das Verhältnis des Menschen zu sich selber regeln. Also ist die Aufzählung der zehn Gebote unzureichend. II. Zur Gottesverehrung gehört nicht nur die Sabbathsruhe, sondern auch die schuldige Rücksicht auf andere Festlichkeiten und auf das Darbringen von Opfern. Davon ist aher nicht die Rede. III. Gegen Gott sündigt man nicht nur durch Meineid, sondern auch durch Lästerungen, durch Lügen gegen die göttliche Lehre etc. Davon ist aber wieder nicht die Rede; sondern es steht bloß da: „du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich führen.“ IV. Wie mit Rücksicht auf die Eltern, so mußte auch ein Gebot gesetzt werden mit Rücksicht auf die Kinder und die anderen Mitmenschen; denn „der Zweck jedes Gebotes ist die Liebe“, nach 1. Tim. 1. V. Bei jeder Art Sünde kann man sündigen durch Begehren und durch Werke. Also mußten nicht nur beim Diebstahle und beim Ehebruche zwei Gebote gesetzt werden, von denen eines die innerliche Liebe, das andere die offene That verbietet. VI. Man sündigt nicht nur infolge der Regellosigkeit in der Begehrkraft, der concupiscibilis, sondern auch infolge der Regellosigkeit in der Abwehrkraft, der irascibilis. Mit Rücksicht auf die erstere aber sind zwei Gebote gesetzt; mit Rücksicht auf die letztere keines. Also ist die Aufzählung keine geordnete. Auf der anderen Seite steht geschrieben Deuter. 4.: „Er hat euch seinen Bund vorgelegt, daß ihr thuet, was Er vorgeschrieben; und die zehn Worte hat Er geschrieben auf steinerne Tafeln.“
b) Ich antworte; wie bereits gesagt beziehen die Gebote des göttlichen Gesetzes den Menschen zur Gemeinschaft mit Gott oder zu einem menschlichen Gemeinwesen unter Gott. Damit es einem aber in einem Gemeinwesen wohl sei, sind zwei Dinge erfordert: daß man sich wohl verhalte zum Leiter des Gemeinwesens und daß man in guten Beziehungen stehe zu den anderen Gliedern desselben. Deshalb werden hier einige Gebote gegeben, welche den Menschen zu den anderen Menschen als Gliedern des gleichen Gemeinwesens unter Gottes Leitung in gute Beziehungen setzen. Dem Leiter aber des Gemeinwesens schuldet der Mensch dreierlei: 1. Treue; 2. Ehrfurcht; 3. Dienst. Die Treue nun besteht darin, daß der Mensch die Ehre der Herrschaft keinem anderen zuteilt; und danach ist das erste Gebot: „Du sollst keine fremden Götter neben mir haben.“ Die Ehrfurcht besteht darin, daß der Mensch keine Beleidigung zufügt dem Leiter und Fürsten; und danach ist das zweite Gebot: „Du sollst den Namen Gottes nicht vergeblich führen.“ Dienst aber gebührt dem Herrn zur Vergeltung der Wohlthaten, welche die Unterthanen vom Fürsten empfangen; und danach steht das dritte Gebot von der Heillgung des Sabbaths zum Gedächtnisse an die Erschaffung der Dinge. In guter Beziehung zu den Mitmenschen steht der Mensch im allgemeinen und im besonderen. Im besonderen nun mit Rücksicht auf jene, deren Schuldner er ist, so daß er ihnen die Schuld abträgt; und danach ist das vierte Gebot da. Im allgemeinen, daß der Mensch keinem schadet weder im Werke noch mit dem Munde, noch in Gedanken. Durch die That schadet man dem Menschen einmal, wenn man dem Bestände seiner eigenen Person schaden thut; und danach ist verboten das Töten. Dann schadet man ihm mit Rücksicht auf die mit ihm zur Fortpflanzung des Geschlechtes verbundene Person; und danach ist das sechste Gebot vom Ehebruche. Endlich kann man ihm schaden in seinem Besitze; und danach ist der Diebstahl verboten. Der Schaden mit dem Munde wird im achten Gebote verboten; und der Schaden, den man ihm im Herzen bereitet, durch die beiden letzten: „Du sollst nicht begehren.“ Und gemäß dieser letzteren Unterscheidung kann man auch die ersten drei voneinander trennen, so daß im ersten unser Thun auf Gott gerichtet, resp. vom Übel in dieser Beziehung abgezogen wird; im zweiten unsere Worte auf Gott bezogen werden; im dritten unsere Herzen; denn den Sabbath heiligen will sagen: mit unserem Herzen in Gott ruhen. Oder wir ehren nach dem ersten die Einheit des Princips; nach dem zweiten die göttliche Wahrheit; nach dem dritten die göttliche Güte, durch die wir geheiligt werden und in der wir wie im Endzwecke ruhen.
c) I. Die zehn Gebote beziehen sich auf die Gebote der Liebe. Über die Liebe Gottes und des Nächsten nun mußten Gebote gegeben werden; denn mit Bezug darauf war das Naturgesetz verdunkelt, was mit der Selbstliebe nicht der Fall war; — oder auch weil die gute Selbstliebe eingeschlossen ist in der Gottes- und Nächstenliebe; da sich der Mensch dann wahrhaft liebt, wenn er sich zu Gott hin bezieht. Anders kann noch gesagt werden: Die zehn Gebote hat das Volk unmittelbar von Gott bekommen, nach Deut. 10.: „Er schrieb auf Tafeln von Stein die zehn Worte, welche zu euch gesprochen hat der Herr.“ Diese Gebote mußten also sofort verständlich sein. Jedes Gebot nun hat den Charakter des Geschuldeten, der Verpflichtung. Daß aber der Mensch notwendigerweise Gott oder dem Nächsten etwas schuldet, das versteht man leicht. Daß jedoch der Mensch notwendigerweise auch sich selbst etwas schuldet, das ist schwerer zu verstehen. Denn auf den ersten Blick scheint es, als ob der Mensch mit Rücksicht auf sich selber frei wäre und keiner Vorschrift zu folgen hätte. Deshalb gelangen die Vorschriften betreffs Regelung der ungeordneten Leidenschaften im Menschen selbst erst an das Volk vermittelst des Unterrichts von seiten der Weisen. II. Alle Feste und Opfer sind eingerichtet auf Grund einer von Gott empfangenen oder einer figürlich vorgebildeten Wohlthat. Unter allen Wohlthaten aber ist die erste die der Erschaffung; und diese gerade wird in der Sabbathsruhe geseiert. Deshalb wird Exod. 20. als Grund dieses Gebotes angegeben: „Denn in sechs Tagen hat Gott Himmel und Erde gemacht.“ Und unter allen zukünftigen Wohlthaten, die figürlich vorgestellt werden sollten, ist die erste und hauptsächliche die Ruhe des Geistes in Gott: hier auf Erden durch die Gnade, dort im Himmel durch die Herrlichkeit. Diese wird ebenfalls dargestellt durch die Sabbathsruhe. Diese zwei Wohlthaten kommen an erster Stelle in das Gedächtnis der Menschen, zumal der Gläubigen. Die anderen Feste hatten vorübergehende Wohlthaten Gottes zum Gegenstand, wie Ostern die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft und das zukünftige Leiden Christi. Deshalb wird nur die Sabbathsruhe erwähnt als das Andenken an die zwei dauernden Wohlthaten. III. Paulus sagt (Hebr. 6.): „Die Menschen schwören bei Einem, der gewaltiger ist; und von jedem Streite das Ende ist zur Bekräftigung der Eid.“ Weil also der Eid etwas Gemeinsames ist für alle, deshalb wird die Unordnung rücksichtlich des Eides durch ein specielles Gebot verboten. Die Sünde der falschen Lehre geht nur wenige an; obgleich auch diese Sünde im zweiten Gebote mitverstanden sein kann, wie die Glosse dazu bemerkt: „Du sollst nicht sagen, Christus sei eine Kreatur.“ IV. Daß man dem Mitmenschen kein Übel anthun soll, das ordnet gleich von vornherein die Vernunft an. Sie sagt aber nicht allsogleich, man solle etwas für einen anderen thun, ausgenommen im Falle daß man jemandem etwas schuldet. Die Schuld nun, welche vom Kinde aus den Eltern gegenüber besteht, ist so offenbar, daß sie durch keinen Vorwand verhüllt werden kann. Denn der Vater ist das Princip des Zeugens und des Seins; und dazu noch der Erziehung und des Unterrichts. Deshalb wird unter den zehn Geboten nur die Schuld den Eltern gegenüber erwähnt. Die Eltern aber sind nicht die Schuldner gegenüber ihren Kindern auf Grund empfangener Wohlthaten. Vielmehr ist das Kind „etwas zu den Eltern Gehöriges,“ nach 8 Ethic. 12. Und deshalb wird aus demselben Grunde in den zehn Geboten nichts gesetzt, was zu den Pflichten der Eltern gegenüber den Kindern gehört, wie da nichts gesetzt wird, was zur Selbstliebe gehört. V. Das Ergötzen am Ehebruche und der Nutzen des Reichtums sind an und für sich Gegenstand der Ergötzung, insofern sie den Charakter des ergötzlichen oder nützlichen Guten haben. Deshalb mußte man nicht nur die That verbieten, sondern auch das Begehren. Mord aber und Falschheit sind an und für sich etwas Erschreckendes (weil man gemäß der Natur den Nächsten und die Wahrheit liebt) und werden nur erstrebt auf Grund von etwas Anderem. Es brauchte da also nicht die Sünde im Herzen verboten werden. VI. Alle Leidenschaften der Abwehrkraft leiten sich ab von denen in der Begehrkraft. Da also die zehn Gebote die ersten Elemente des „Gesetzes“ sind, so werden die in der Abwehrkraft nicht erwähnt.
