Fünfter Artikel. Die heilige Liebe ist eine einige Tugend.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Zwei Gegenstände hat die Liebe: Gott und den Nächsten. Also sind es auch zwei Tugenden. II. Verschiedene Gesichtspunkte, unter denen der Gegenstand einer Tugend betrachtet wird, machen eine Verschiedenheit in den Tugenden. Unter vielen Gesichtspunkten aber kann Gott Gegenstand unserer Liebe sein; denn infolge jeder einzelnen von Ihm empfangenen Wohlthat sind wir die Schuldner seiner Liebe. Also ist die heilige Liebe nicht eine einige Tugend. III. In der heiligen Liebe ist die Freundschaft mit dem Nächsten eingeschlossen. Aristoteles aber zählt (s. oben) mehrere Gattungen Freundschaft auf. Auf der anderen Seite ist der Glaube eine einige Tugend, nach Ephes. 4.: „Ein einiger Glaube;“ denn Gott ist die eine Wahrheit. Also auch die Liebe ist eine einige Tugend, denn Gott ist die Einheit aller Güte.
b) Ich antworte, die heilige Liebe sei eine gewisse Freundschaft mit Gott. Nun werden verschiedene Gattungen von Freundschaft angenommen: 1. auf Grund des verschiedenen Zweckes; und so spricht man von einer nützlichen, ergötzlichen, ehrbaren Freundschaft, je nachdem sie das Ergötzen, den Nutzen, das Ehrbare zum Zwecke hat; — 2. auf Grund der verschiedenen Gemeinschaftlichkeit, auf der sie sich aufbaut; und so spricht man von Blutsverwandtschaft, von Freundschaft unter den Bürgern ein und derselben Stadt, oder unter Reisegenossen etc. In keiner der genannten Weisen verliert die heilige Liebe ihre unverbrüchliche Einheit. Denn nur einen Zweck hat sie: die göttliche Güte; und nur auf einer Gemeinschaftlichkeit beruht sie: auf der des letzten Endzweckes, nämlich der Seligkeit.
c) I. Der Nächste wird geliebt um Gottes willen. Gott ist immer der leitende Gegenstand. II. Von der Liebe wird Gott nur unter dem Gesichtspunkte Seiner selbst geliebt, d. h. Seiner Güte; nach Ps. 105.: „Preiset Gott, weil Er gut ist.“ Alle anderen Gesichtspunkte sind diesem als leitendem untergeordnet. III. Die rein menschlichen Freundschaften haben Verschiedenheit im Zwecke und in der Gemeinschaftlichkeit als der Grundlage; nicht aber ist dies bei der heiligen Liebe der Fall.
