Erster Artikel. Die brüderliche Zurechtweisung ist ein Akt der Liebe.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Zu Matth. 18. (Si peccaverit) sagt die Glosse: „Aus Eifer für die Gerechtigkeit soll man den Bruder zurechtweisen.“ II. Die brüderliche Zurechtweisung vollzieht sich durch Ermahnung; also durch einen Rat. Der Rat aber gehört zur Tugend der Klugheit. (6 Ethic. 5.) III. Den Sünder ertragen ist ein Akt der Liebe, nach Gal. 6, 2.: „Der eine soll die Lasten des anderen tragen.“ Also ist nicht das Gegenteil ein Akt der Liebe. Auf der anderen Seite ist die brüderliche Zurechtweisung ein geistiges Almosen, also ein Akt der Liebe.
b) Ich antworte; den fehlenden zurechtweisen ist ein Heilmittel gegen die Sünde. Die Sünde aber ist zuerst schädlich dem Sünder selbst; dann ist sie schädlich den anderen, denen sie unrecht thut oder die sie ärgert; und endlich schadet sie dem Gemeinbesten, dessen Gleichmaß die Sünden erschüttern. Die brüderliche Zurechtweisung nun im eigentlichen Sinne ist ein Heilmittel gegen die Sünde, soweit diese dem Sünder schadet. Das Übel entfernen steht aber auf der gleichen Stufe wie das Gute befördern; Letzteres jedoch ist zur Liebe gehörig, durch welche wir Gutes wollen und wirken gegenüber dem Freunde. Also ist die brüderliche Zurechtweisung um so mehr ein Akt der Liebe, als die Entfernung eines geistigen Übels ein höheres Gut ist wie die Entfernung eines leiblichen oder äußeren Übels. Soweit aber die Sünde den anderen schadet oder dem Gemeinbesten, ist die brüderliche Zurechtweisung ein Akt der Gerechtigkeit; welcher es zugehört, das Gleichmaß mit Rücksicht des einen auf den anderen wiederherzustellen.
c) I. Die Glosse spricht von der zweiten Art. Spricht sie aber von der ersten, so ist die „Gerechtigkeit“ da genommen als allgemeine Tugend, wie „jede Sünde eine Ungerechtigkeit ist.“ (1. Ioh. 3.) II. Die Klugheit ordnet das Zweckdienliche zum Zwecke hin; und somit gehört zu ihr der Rat und die Auswahl. Thun wir aber kraft der Klugheit etwas, was dem Zwecke der Mäßigkeit oder einer anderen Tugend dient, so ist der Akt zugehörig jener Tugend, zu deren Zweck hin er geordnet wird. Da also die Ermahnung in unserem Falle der Liebe dient, nämlich der Entfernung der Sünde, so ist eine solche Ermahnung an erster Stelle ein Akt der Liebe; und dann erst, an zweiter Stelle, ein Akt der Klugheit wie der Tugend, welche den Akt unterordnet der Liebe. III. Die brüderliche Zurechtweisung steht nicht entgegen dem Ertragen des Sünders, sondern folgt daraus. Denn jemand erträgt den Sünder, insoweit er ihm sein Wohlwollen bewahrt; und daraus folgt, daß er strebt, ihn zu bessern.
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