Sechster Artikel. Die Furcht, daß der andere schlechter wird, muß von der Zurechtweisung abhalten.
a) Dies ist nicht recht behauptet. Denn: I. Die Sünde ist eine Krankheit der Seele, nach Ps. 6.: „Erbarme Dich meiner, 0 Herr, denn ich bin krank.“ Wer aber einen kranken behandelt, muß nicht dessen Widerspruch oder Verachtung in Betracht ziehen, wie dies bei den wahnsinnigen klar ist. II. Nach Hieronymus muß man ein tugendhaftes, der Wahrheit entsprechendes Leben nicht aufgeben aus Furcht vor Ärgernis. Da also die brüderliche Liebe ein Gebot ist, so muß man sie nicht vernachlässigen wegen des Ärgernisses, das der betreffende daran nimmt. III. Man soll nach Röm. 3. nichts Übles um etwas Gutes willen thun. Also darf man auch nicht das Gute unterlassen, damit kein Übel entstehe. Die brüderliche Zurechtweisung aber ist etwas Gutes. Also muß man sie nicht unterlassen aus Furcht, daß der zurechtzuweisende schlechter werde. Auf der anderen Seite heißt es Prov. 9.: „Weise den Spötter nicht zurecht, damit er dich nicht hasse;“ wozu Gregor (8. moral. 24.) bemerkt: „Du mußt nicht fürchten, daß der Spötter dich schmäht; sondern davor mußt du Furcht haben, daß er zum Hasse hingerissen nicht schlechter werde.“
b) Ich antworte, jene Zurechtweisung, die den Oberen als Akt der Gerechtigkeit zukommt, dürfe nicht unterlassen werden aus Furcht vor der Verschlechterung des schuldigen. Denn will er nicht freiwillig sich bessern, so muß er durch Strafe dazu gezwungen werden, daß er vom Sündigen ablasse. Und ferner wird, wenn er ganz unverbesserlich ist, dadurch für das Gemeinbeste gesorgt, indem die Ordnung der Gerechtigkeit gewahrt und andere vom Sündigen abgeschreckt werden. Der Richter läßt sich nicht abhalten, den verurteilenden Spruch zu fällen, wegen der Unverbesserlichkeit des schuldigen oder wegen der Teilnahme von dessen Freunden. Die andere Zurechtweisung aber, die dem Besten des Sünders selber wesentlich dienen soll, wird lieber unterlassen, wenn vernünftigerweise vorausgesetzt werden kann, der schuldige werde noch schlechter werden. Denn das Zweckdienliche muß sich dem Zwecke unterordnen.
c) I. Der Arzt gebraucht den wahnsinnigen und ähnlichen gegenüber den Zwang; und darin ähnelt er dem Oberen, der die Gewalt hat, durch Strafe zu zwingen. II. Der Tugendakt als Gegenstand des Gebotes muß im Verhältnisse zum Zwecke stehen und gemäß demselben geregelt werden. III. Ist die brüderliche Zurechtweisung ein Hindernis für den Zweck, also für die Besserung, so hat sie nicht mehr den Charakter des Zweckdienlichen und ist somit nichts Gutes mehr.
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