Zweiter Artikel. Die brüderliche Zurechtweisung ist ein Gebot.
a) Dem wird widersprochen. Denn: I. Das Unmögliche fällt nicht unter das Gebot. Ekkli. 7. aber heiht es: „Betrachte die Werke Gottes, wie niemand jenen bessern kann, den Gott verachtet.“ II. Die zehn Gebote enthalten irgendwie alle Gebote Gottes. Die brüderliche Zurechtweisung ist aber in keiner Weise darin enthalten. III. Auch in heiligen Seelen, wo kein Überschreiten der Gebote Gottes, d. h. keine Todsünde ist, findet sich das Unterlassen der brüderlichen Zurechtweisung; denn Augustin (1. de civ. Dei 9.) schreibt: „Nicht allein jene, die einen tieferen, sondern auch solche, die einen höheren Grad im geistigen Leben einhalten, tadeln andere nicht, auf Grund einer gewissen Begierde und nicht auf Grund der Liebe.“ IV. Ist die brüderliche Zurechtweisung etwas Gebotenes, so ist sie eine Schuld. Sowie also jemand, der einem anderen etwas schuldet, nicht warten darf, bis ihm dieser begegnet, sondern wie er ihn aufsuchen muß; — so müßte man ebenso die der brüderlichen Zurechtweisung bedürftigen aufsuchen, was sowohl wegen deren Menge als auch weil die Ordensleute ihre Klöster verlassen müßten, um dieser ihrer Pflicht nachzukommen, nicht angeht. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de verb. Dom. serm. 16.): „Vernachlässigst du die Zurechtweisung, so bist du schlechter geworden wie jener, der gesündigt hat.“ Also ist da ein Gebot verletzt.
b) Ich antworte, die brüderliche Zurechtweisung sei etwas Gebotenes. Doch ist dabei zu erwägen, wie die negativen Gebote, welche die Sünde verbieten, immer und überall und für alle Verhältnisse verpflichten; denn die Sünde ist an sich etwas Schlechtes und somit immer und unter allen Umständen verboten. Die affirmativen Gebote aber gehen auf Tugendakte; und diese dürfen nur unter ganz bestimmten gebührenden Umständen, zu gewisser Zeit und an gewissem Orte vollzogen werden. Und weil die Ordnung im Zweckdienlichen vom Zwecke abhängt, so ist bei solchen Umständen des tugendhaften Aktes zumal der Charakter des Zweckes zu erwägen, der da im Gute der Tugend besteht. Ist bei einem solchen Umstande nun etwas Mangelhaftes, was dem Gute der Tugend entgegensteht, so ist der betreffende Akt gegen das Gebot. Ist das Mangelhafte aber nicht so beschaffen, daß dadurch das Gute der Tugend aufgehoben wird, so ist ein solcher Akt wohl fehlerhaft, aber nicht im Gegensatze zum Gebote. „Wenn man von der Mittelstraße der Tugend um ein Weniges abweicht,“ heißt es 2 Ethic. ult., „so ist dies nicht gegen die Tugend; weicht man hingegen viel ab, so fällt die Tugend im betreffenden Akte fort. Der Zweck der brüderlichen Zurechtweisung nun ist die Besserung des Sünders. Soweit also fällt sie unter das Gebot, als sie zur Erreichung dieses Zweckes erfordert wird. v) I. Alle Thätigkeit des Menschen ist unwirksam, wenn der göttliche Beistand fehlt. Trotzdem muß der Mensch das Gute thun, soweit es von ihm abhängt und er es versteht. Deshalb sagt Augustin (de corr. et grat. 15.): „Obgleich wir nicht wissen, wer zur Zahl der auserwählten gehört, müssen wir doch von solcher Liebe erfüllt sein, daß wir das Heil aller wollen.“ Also müssen wir die brüderliche Zurechtweisung vollziehen in der Hoffnung auf den Beistand Gottes. II. Alle Gebote, welche den Menschen zum Wohlthun an seinem Nächsten verpflichten, beziehen sich auf das vierte Gebot. III. Die brüderliche Zurechtweisung kann 1. aus Liebe unterlassen werden. Danach sagt Augustin (1. de civ. Dei 9.): „Wenn jemand deshalb die brüderliche Zurechtweisung unterläßt, damit er die gelegene Zeit erwarte, oder weil er fürchtet, die betreffenden Personen würden schlechter werden oder andere Schwache hindern, daß man sie nicht zu einem guten christlichen Leben erziehe, insofern sie dieselben bedrücken und vom Glauben abwenden; — dann liegt für ein solches Unterlassen nicht irgend welche Begierde und Menschenfurcht zu Grunde, sondern das ist der Rat, den die Liebe giebt.“ 2. Unter schwerer Sünde aber wird die brüderliche Zurechtweisung unterlassen, „wenn man das Urteil der Menge fürchtet oder körperliche Pein, so daß diese Furcht vorgezogen wird der Liebe.“ 3. Das Unterlassen ist läßliche Sünde, wenn solche eben erwähnte Furcht den Menschen lässiger macht, seiner Pflicht dem Sünder gegenüber nachzukommen; nicht aber in der Weise, daß es für ihn gewiß ist, er würde durch seine Zurechtweisung etwas erreichen und daß er so die Furcht vorzieht der Liebe. Eines solchen Unterlassens machen sich zuweilen auch heilige Seelen schuldig. IV. Was wir einer bestimmten Person schulden, sei es ein körperliches oder ein geistiges Gut, das müssen wir ihr geben und sie zu diesem Zwecke aufsuchen. Wer also um jemanden besondere Sorge zu tragen hat, der muß ihn aufsuchen, um ihn zu bessern und von der Sünde zurückzuführen. Wohlthaten aber, die wir keiner bestimmten Person schulden, müssen wir nicht aufdrängen und deshalb den Personen nachlaufen; sondern warten müssen wir, bis der entsprechende Fall entgegentritt. Denn dies kann man dann „für ein gewisses Los“ mit Augustin (1. de doctr. christ. 28.) halten, welches die Vorsehung herbeiführt. Deshalb sagt er (de verb. Dom. 15.): „Unser Herr ermahnt uns, unsere Sünden gegenseitig nicht zu vernachlässigen; nicht zwar indem wir suchen, was zu tadeln sei, sondern indem wir schauen, was Bessernswertes entgegentritt,“ nach Prov. 24.: „Suche nicht mach der Sünde im Hause des gottlosen und störe nicht seine Ruhe.“
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