Vierter Artikel. Der untergebene ist manchmal verpflichtet, seinen Oberen zurechtzuweisen.
a) Dies ist nicht richtig. Denn: I. Exod. 19. heißt es: „Wenn ein Tier den Berg berührt, soll es gesteinigt werden;“ und Oza ward vom Herrn mit dem Tode bestraft, weil er die Bundeslade berührt hatte. (2. Kön. 6.) Unter dem „Berge“ und der „Bundeslade“ aber wird der Obere verstanden. II. Zu Gal. 2. (In faciem restiti) sagt die Glosse: „Da also der untergebene dem Oberen nicht gleich ist, soll er ihn nicht zurechtweisen.“ III. Gregor (23. moral. 8.; 26, 28.) sagt: „Das Leben von Heiligen soll jemand nicht bessern wollen, außer wer meint, daß er besser ist.“ Es muß aber niemand besser sein wollen wie sein Oberer. Auf der anderen Seite schreibt Augustin in der „Regel“: „Nicht allein eurer selbst, sondern auch des Oberen erbarmt euch, der unter euch wohl einen höheren Platz einnimmt, aber auch desto größeren Gefahren ausgesetzt ist.“ Die brüderliche Zurechtweisung aber ist ein Werk der Barmherzigkeit.
b) Ich antworte, die brüderliche Zurechtweisung in der Weise der Strafe, als Akt der Gerechtigkeit, komme nur dem Oberen zu; — als Akt der Liebe aber erstrecke sie sich auf alle mit Rücksicht auf jede beliebige Person, zu der man Liebe haben muß und in der Bessernswertes sich findet. Denn der Akt eines Vermögens oder Zustandes erstreckt sich auf Alles, was im Gegenstande des betreffenden Vermögens oder Zustandes enthalten ist; wie alle Farben auf den Akt des Sehens sich beziehen. Weil aber alle Tugendakte unter den gebührenden Umständen vollzogen werden müssen, deshalb muß eine solche Zurechtweisung dem Oberen gegenüber diesem Verhältnisse entsprechen. Sie darf also nicht mit Frechheit und Härte geschehen, sondern von Sanftmut und Ehrfurcht muß sie begleitet sein. Deshalb ermahnt Paulus (1. Tim. 6.): „Den älteren schelte nicht, sondern beschwöre ihn wie einen Vater.“ Und Dionysius tadelt (op. 8.) den Demophilus, weil er einen Priester ohne die nötige Ehrfurcht zurechtgewiesen, ihn geschlagen und aus der Kirche gejagt hatte.
c) I. Wann der Obere ohne Ehrfurcht getadelt wird, dann wird er ungeregelterweise „berührt.“ II. „Ins Angesicht widerstehen“ überschreitet das Maß der brüderlichen Zurechtweisung gegenüber dem Oberen. Dies hätte also Paulus nicht gethan, wenn er nicht mit Rücksicht auf die Verteidigung und Aufrechterhaltung des Glaubens mit Petrus gewissermaßen auf der gleichen Stufe gestanden hätte. Im stillen aber und mit Ehrfurcht ermähnen, das kann auch der eigentlich untergebene; wie Paulus (Kol. ult. 17.) schreibt: „Saget dem Archippus (dem Bischöfe): Thue deinen Dienst.“ Wo jedoch der Glaube Gefahr läuft, da muß man auch öffentlich die Oberen zurechtweisen, wie das Paulus that; und wie Augustin diesbezüglich schreibt (ep. 19.): „Petrus selbst hat den Vorgesetzten das Beispiel gegeben, daß sie, wenn sie etwa den rechten Pfad verließen, auch nicht unwillig es aufnehmen sollen, wenn untergebene sie zurechtweisen.“ III. Sich schlechthin und in Allem für besser halten wie den Oberen; das ist Hochmut. Sich in mancher Beziehung für besser halten, ist kein Hochmut und keine Vermessenheit; denn jeder Mensch hat in diesem Leben einen Fehler. Zudem ist eine solche brüderliche Zurechtweisung gegenüber dem Oberen kein Beweis, daß sich der untergebene für besser hält, sondern ein Beistand, wie Augustin (s. ob.) in der „Regel“ sagt.
