Siebenter Artikel. Mt jener Art Notwendigkeit, welche in Begleitung eines Gebotes sich findet, muß eine geheime Mahnung vorangehen der öffentlichen Anzeige.
a) Das wird bestritten. Denn: I. In den Werken der heiligen Liebe müssen wir vorzugsweise Gott nachahmen, nach Ephes. 5, 1. Gott aber straft manchmal öffentlich für eine Sünde, ohne daß eine geheime Mahnung an den Sünder vorange gangen wäre. II. Nach Augustin (de mendacio 15.) „können wir aus den Thaten der Heiligen sehen, wie die göttlichen Gebote aufzufassen sind.“ In der Handlungsweise der Heiligen aber finden wir manchmal die Anzeige ohne vorgängige geheime Mahnung, wie z. B. „Joseph seine Brüder beim Vater, einer im höchsten Grade abscheulichen Sünde anklagte“ (Gen. 37.); und nach Act. 5. hat Petrus den Ananias und die Saphira öffentlich angezeigt, ohne daß er sie vorher wegen ihrer Sünde ermahnt hätte; vom Herrn selbst wird zudem nirgends gelesen, daß er vorher den Judas insgeheim ermahnt habe, ehe er ihn den anderen anzeigte. Also. III. Die Anklage wiegt schwerer wie die bloße Anzeige. Es kann aber jemand zur Anklage schreiten ohne vorgängige geheime Mahnung, nach cap. Qualiter 34. de accusat., wonach man bloß als Ankläger sich eintragen lassen muß. Also. IV. In den religiösen Orden ist schwer anzunehmen, daß das, was gemeinhin im Gebrauche ist, gegen die Gebote Christi sei. Ein solcher Gebrauch aber ist der, daß in den sogenannten Kapiteln manche auf Grund ihrer Schuld in Gegenwart aller anderen angezeigt werden, ohne daß eine geheime Mahnung vorangegangen wäre. V. Die Ordensleute müssen ihren Oberen gehorchen. Diese aber schreiben manchmal vor, man solle anzeigen, was man an Bessernswertem wisse, ohne vorgängige Mahnung an die betreffenden Schuldigen. Auf der anderen Seite sagt Augustin (de verb. Domini serm. 16, c. 4.): „Sei bemüht zu bessern, trage Rechnung der Beschämung. Denn vor Scham beginnt er vielleicht, seine Sünde zu verteidigen; und anstatt ihn besser zu machen, machst du ihn schlechter.“ Dazu aber sind wir bei der brüderlichen Zurechtweisung gehalten, daß der schuldige nicht schlechter werde.
b) Ich antworte, die Sünden seien entweder öffentliche oder geheime. Im ersten Falle muß das Heilmittel nicht allein dafür geeignet sein, daß der Sünder besser wird; sondern auch muß es zur Kenntnis der anderen kommen, damit kein Ärgernis entstehe. Solche Sünden also sind öffentlich an den Pranger zu stellen, nach I.Tim. 5.: „Die Sünder strafe in Gegenwart aller, damit auch die übrigen sich fürchten,“ was auf die öffentlichen Sünden Bezug hat. (Aug. I. c.) Sind die Sünden geheime, so hat das Gebot des Herrn seine Stelle: „Wenn dein Bruder wider dich gesündigt hat, so weise ihn zurecht unter vier Augen allein.“ Denn sündigt er in Gegenwart aller, so sündigt er nicht allein „wider dich“, sondern wider die anderen auch. Jedoch muß man bei den geheimen Sünden noch weiter unterscheiden. Denn manche Sünden geschehen im geheimen, die aber dem Nächsten in körperlicher oder geistiger Beziehung zum Schaden gereichen; wie wenn jemand insgeheim verhandelt, in welcher Weise er den Staat verraten solle, oder wenn jemand insgeheim ketzerische Lehren verbreitet. Hat man also in solchen Fällen nicht die feste Überzeugung, eine geheime Mahnung werde genügend sein, um unmittelbar solches Beginnen zu hindern; so muß man gleich öffentliche Anzeige machen; denn ein solcher schuldige sündigt nicht allein „wider dich“, sondern wider alle anderen. Andere Sünden aber schaden einzig dem Sünder oder allein jenem, der dadurch verletzt wird. Dann darf man nur darauf sehen, daß dem Sünder geholfen werde. Und wie der Arzt, wenn es möglich ist, den kranken heilt, ohne ein Glied abzuschneiden; ist dies aber unmöglich, so schneidet er ein Glied ab, damit das Leben des Ganzen bleibe; — so muß der zurechtweisende wenn möglich so bessern mit Rücksicht auf das Gewissen den Bruder, daß dessen Ruf unangetastet bleibe; was schon mit Rücksicht auf das Zeitliche gut ist, insofern mancher zeitliche Verlust begleitet den VerlustH. Thomas v. A., theolog. Summa. VII. 16 des guten Rufes; und was zudem auch für die Seele gut ist, denn die Furcht, daß die Sünde bekannt werde, ist für viele ein heilsamer Zügel. Deshalb sagt Hieronymus: „Für sich allein muß man den Bruder zurechtweisen, damit er nicht, hat er einmal die Scham verloren, in der Sünde verbleibe.“ Sodann ist diese Sorge für den guten Namen des schuldigen gut, weil, wenn einer seinen guten Namen verloren, auch andere verdächtigt werden, wie Augustin schreibt (op. 77.): „Wenn über einige, die den heiligen Namen bekennen, das Gerücht eines Verbrechens sich verbreitet, mag es wahr oder falsch sein, so sind schon viele bereit und arbeiten dafür, daß man glaube, alle seien dieses Verbrechens schuldig;“ — und endlich weil, wenn eine Sünde öffentlich verbreitet ist, andere gereizt werden, die nämliche Sünde zu begehen. Insofern aber das Gewissen vorangeht dem guten Rufe, so wollte der Herr, daß, möchte auch die Sünde bekannt werden und so der gute Ruf leiden, das Gewissen des Bruders, auch selbst durch öffentliche Anzeige, befreit werde. Also muß gemäß dem Gebote die geheime Mahnung vorangehen der öffentlichen Anzeige.
c) 1. Alles Verborgene ist Gott offenbar. Wie also öffentliche Sünden sich verhalten zum menschlichen Urteile, so die verborgenen zum Urteile Gottes. Und doch mahnt auch der Herr zumeist vorher insgeheim durch seine Einsprechung, nach Job 33.: „Während des Traumes, in nächtlichem Gesichte, wann der Schlaf den Menschen gefangen hält, da öffnet Er die Ohren der Männer und unterrichtet sie in seinem Gesetze, daß Er abwende den Menschen von seinem Thun.“ II. Der Herr hat mit dunklen Worten dem Judas angezeigt, daß Er, der Herr, um seinen Verrat wußte; nicht offen hat Er den Jüngern die Sünde des Judas kundgethan. Gleichwohl war für den Herrn die letztere eine offenbare. Petrus handelte als ausführendes Werkzeug Gottes, durch den er die Sünde der beiden kannte. Von Joseph aber kann man glauben, er habe manchmal seine Brüder vorher ermahnt; obgleich dies nicht ge schrieben steht. III. Wann für das Ganze Gefahr droht, haben die Worte des Herrn an dieser Stelle keine Geltung; denn „der Bruder sündigt dann nicht wider dich“, sondern wider viele andere. IV. Dergleichen Anzeigen betreffen Kleinigkeiten. Handelte es sich um Sünden, deren Veröffentlichung dem guten Rufe des betreffenden schaden müßte, so dürfte man sie nicht anzeigen; dies wäre gegen das Gebot des Herrn. V. Bei solchen Vorschriften des Oberen ist immer vorauszusetzen, daß, sei die betreffende Vorschrift für alle oder nur für einen bestimmten, immer in jedem Falle die Ordnung der brüderlichen Zurechtweisung eingehalten werden muß, wie der Herr sie angeordnet. Würde der Obere vorschreiben, man solle ausdrücklich gegen diese gegebene Ordnung was man weiß zur Anzeige bringen, so würde der Obere sündigen, der so vorschriebe; und ebenso der Untergebene, der in dieser Weise gehorchte. Denn nicht der Obere, sondern nur Gott ist Richter über das Verborgene des Herzens. Der erstere kann also nichts mit Rücksicht auf Verborgenes vorschreiben, außer insoweit dasselbe bereits durch äußere Anzeichen in etwa öffentlich geworden ist. In diesen Fällen hat dann der Obere die gleiche Gewalt im Vorschreiben, wie auch der weltliche oder kirchliche Richter einen Eid verlangen kann, daß man die Wahrheit sage.
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