Fünfter Artikel. Die Verpflichtung des Sünders, den fehlenden zurechtzuweisen.
a) Ein Sünder darf den fehlenden zurechtweisen. Denn: I. Keiner wird durch die Sünde von der Beobachtung eines Gebotes entbunden. Die brüderliche Zurechtweisung aber ist ein Gebot II. Das geistige Almosen steht höher wie das leibliche, welches doch auch der Sünder geben muß. III. 1. Joh. 1, 8. heißt es: „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, so führen wir uns selber in die Irre.“ Also dürfte niemand zu rechtweisen, denn wir alle sind Sünder. Auf der anderen Seite sagt Isidor (3. de summo bono 32.): „Das Leben anderer soll jener nicht bessern wollen, der selbst Lastern unterthan ist;“ und Röm. 2. heißt es: „Worin du andere beurteilst, verdammst du dich selbst; das Gleiche nämlich thust du wie der, über welchen du zu Gerichte sitzest.“
b) Ich antworte, das gerade gesunde Urteil der Vernunft mache dazu geeignet, jemanden zurechtzuweisen. Die Sünde aber nimmt nicht das der Natur entsprechende Gute hinweg, so daß auch im Sünder etwas vom gesunden geraden Urteile verbleibt. Danach also kann es ihm gebühren, einen anderen zurechtzuweisen. Die vorhergehende Sünde aber ist dafür ein gewisses Hindernis. Denn 1. macht sie ihn unwürdig dazu, einen anderen bessern zu wollen, zumal wenn seine Sünde die größere ist. Deshalb sagt Hieronymus zu Matth. 7. (Quid vides festucam): „Er spricht von jenen, die, selbst in schweren Sünden, an geringeren Sünden in ihren Brüdern Anstoß nehmen.“ Es hindert die vorgängige Sünde 2. wegen des Ärgernisses, wenn die Sünde dessen, der zurechtweisen will, offen vorliegt. Deshalb sagt Chrysostonms zu Matth. 7.: Quomodo dicis fratri tuo (op. imp. hom. 17.): „Wie kannst du meinen, aus Liebe deinen Nächsten zurechtzuweisen, damit du ihn rettest! Du würdest dich doch zuerst selber retten! Nein; nicht andere retten willst du, sondern durch eine schöne, gute Lehre deine schlechten Thaten verhüllen; das Lob, weise und gelehrt zu sein, suchst du bei den Menschen.“ Die Sünde ist 3. ein Hindernis für die brüderliche Zurechtweisung wegen des Hochmuts dessen, der, selber in Sünden, bessern will; denn er sieht für gering an seine eigenen Sünden und zieht sich dem Nächsten vor, dessen Sünde er streng verurteilt, als ob er selber gerecht wäre. Deshalb sagt Augustin (2. de serm. Dom. in monte 19.): „Sünden anklagen ist Sache guter und wohlwollender Menschen; thun dies die bösen, so thun sie, was ihnen nicht zugehört… Denken wir also, wenn die Notwendigkeit dazu drängt daß wir jemanden zurechtweisen, ob die betreffende Sünde wir selber nie gehabt haben; und dann denken wir, daß wir Menschen sind und also jene Sünden haben konnten; oder daß wir sie einmal hatten, wenn wir sie auch nicht mehr haben. Und dann trete in unsere Erinnerung die gemeinsame Gebrechlichkeit; damit nicht Haß, sondern Erbarmen dieser Zurechtweisung vorhergehe. Finden wir aber, wir seien in demselben Fehler, dann schelten wir nicht; seufzen wir dann mit und laden wir jenen ein, nicht daß er uns folge, sondern daß er zusammen mit uns sich hüte.“ Also mit Demut muß der Sünder zurechtweisen; da sündigt er nicht.
c) Damit beantwortet.
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