Sechster Artikel. Der Diebstahl ist eine schwere Sünde.
a) Der Diebstahl ist keine schwere Sünde. Denn: I. Prov.6.: „Die Schuld ist nicht bedeutend, wenn jemand gestohlen hat.“ II. Der Todsünde gebührt die Strafe des Todes. Das ist aber beim Diebstahle nicht der Fall. Denn Exod. 22. heißt es: „Hat jemand einen Ochsen gestohlen oder ein Schaf… so soll er fünf Ochsen für einen wieder erstatten.“… Also ist der Diebstahl keine Todsünde. III. Der Diebstahl hat oft geringe Sachen zum Gegenstande. Dafür wird aber niemand mit der Hölle bestraft, die doch der Todsünde gebührt. Auf der anderen Seite wird nur für eine Todsünde jemand von Gott verdammt. Zach. 5. aber heißt es: „Das ist der Fluch, welcher ausgeht über das Antlitz der ganzen Erde; denn jeder Dieb, wie da geschrieben steht, wird gerichtet werden.“ Also ist der Diebstahl eine Todsünde.
b) Ich antworte, Todsünde sei jene Sünde, welche der heiligen Liebe entgegensteht, soweit diese das geistige Leben der Seele ist. Zur heiligen Liebe aber gehört es, daß wir dem Mitmenschen Gutes wollen und thun. Der Diebstahl nun schadet dem Mitmenschen in dem, was er besitzt; und wenn jeder beliebig stehlen wollte, ginge die menschliche Gesellschaft zu Grunde, Also ist er eine Todsünde.
c) I. Der Diebstahl wird als eine nicht große Schuld bezeichnet: 1. wegen des Bedürfnisses oder der Notwendigkeit, die dazu verleitet und manchmal den Charakter der Schuld ganz nimmt; weshalb I. c. hinzugefügt wird: „Denn er stiehlt, um den Hunger zu stillen;“ — 2. im Vergleiche zum Ehebruche, weshalb weiter unten die Worte folgen: „Ertappt soll der Dieb siebenfach ersetzen; der Ehebrecher aber wird seine Seele verderben.“ II. Die Strafen hier auf Erden sind mehr Heilmittel als Vergeltung, welche dem göttlichen Gerichte vorbehalten bleibt. Nur also für jene Todsünden gilt hier die Todesstrafe, welche unheilbaren Schaden verursachen oder eine erschreckliche Häßlichkeit an sich haben. Der Diebstahl aber verursacht keinen unersetzlichen Schaden. Deshalb gilt ihm gegenüber die Todesstrafe nur, wenn ein höchst erschwerender Umstand hinzutritt, wie z. B. das Sakrileg, nämlich das Ansichnehmen heiligen Gutes; oder der Raub eines zum Gemeinbesten gehörigen Gutes (Aug. tract. 50. in Joan.); oder der Raub eines Menschen, wofür jemand mit dem Tode bestraft wird. (Exod. 21.) III. Das Geringe wird von der Vernunft aufgefaßt als ob es nichts wäre. In solchen geringen Dingen also erachtet der Mensch nicht, daß man Schaden thue; wer somit dergleichen an sich nimmt, kann voraussetzen, dies sei nicht gegen den Willen dessen, dem die Sache gehört. Also kann da der Mensch von einer Todsünde freigesprochen werden; vorausgesetzt freilich daß er nicht die Absicht hatte, dem Mitmenschen zu schaden, in welchem Falle, sowie in anderen Fällen im bloßen Gedanken, eine Todsünde erliegen kann.
