Dritter Artikel. Die Hochherzigkeit ist eine Tugend.
a) Das scheint unwahr. Denn: I. Die Tugend besteht in der rechten Mitte. Die Hochherzigkeit aber richtet sich auf das Größte; „der hochherzige nämlich erachtet sich der höchsten Ehren wert.“ (4 Ethic. 3.) II. Wer eine Tugend hat, der hat alle insgesamt. (I., II. Kap. 65, Art. 1.) Es kann jedoch jemand ganz wohl Tugend haben, ohne daß er die Hochherzigkeit hat. Denn, sagt Aristoteles (l. c.): „Wer Geringes verdient hat und dessen sich für wert hält, ist gemäßigt; das ist aber nicht der hochherzige.“ Also ist es keine Tugend. III. „Die Tugend ist eine gute Eigenschaft der Seele.“ Die Hochherzigkeit aber ist begleitet von gewissen körperlichen Eigentümlichkeiten. Denn Aristoteles schreibt (l. c.): „Der hochherzige bewegt sich langsam, sein Wort ist schwerwiegend, sein Sprechen hält immer dieselbe Art und Weise ein.“ Also ist die Hochherzigkeit keine Tugend. IV. Die Hochherzigkeit steht im Gegensatze zur Demut. Denn „der hochherzige hält sich würdig großer Dinge und verachtet die anderen“ (l. c.). Keine Tugend aber ist einer anderen entgegengesetzt. V. Jede Tugend hat nur lobwürdige Eigentümlichkeiten. Die Hochherzigkeit aber besitzt manche tadelnswerte Eigenheiten: 1. der hochherzige ist der empfangenen Wohlthaten uneingedenk; 2. er ist langsam und hat immer müßige Zeit; 3. er gebraucht gegenüber vielen die Ironie; 4. er kann nicht gut mit anderen zusammenleben; 5. er besitzt mehr Unfruchtbares und Unnützes wie Nützliches. Also kann da von keiner Tugend die Rede sein. Auf der anderen Seite heißt es zum Lobe einzelner in 2. Makk. 14.: „Da Nicanor hörte von der Tugend der Begleiter des Judas und von ihrer Hochherzigkeit, welche sie in den Kämpfen für das Vaterland zeigten, scheute er es, ein Blutgericht zu halten.“
b) Ich antworte, zum Wesen der menschlichen Tugend gehöre es, daß in den menschlichen Dingen das vernunftgemäße Gute gewahrt werde, was da ist: das dem Menschen als solchem entsprechende Gute. Unter den menschlichen Angelegenheiten aber stehen an bevorzugter Stelle die Ehren. Also ist die Hochherzigkeit, die den Maßstab der Vernunft an die höchsten Ehren anlegt, eine Tugend.
e) I. Ebenso (4 Ethic. 3.) heißt es bei Aristoteles: „Der hochherzige strebt zwar nach dem Höchsten, aber gemäß der rechten Mitte; denn er strebt nach dem Maßstabe der Vernunft, wie, wann etc. es sich gebührt; hält er sich doch nicht größerer Ehren wert als er erachtet, verdient zu haben.“ II. Die Verknüpfung der Tugenden ist nicht gemäß den Thätigkeiten zu verstehen, daß es jedem nämlich zukomme, alle Tugenden thatsächlich zu üben; denn die Thätigkeit der Hochherzigkeit kommt nur den großen zu, nicht jedem tugendhaften. Vielmehr sind gemäß den Principien der Tugenden, der Klugheit und der Gnade, alle Tugenden verbunden; insoweit alle Tugenden zuständlich in der Seele sind und zwar entweder nach einem thatsächlich bestehenden Zustande oder nach einer nahen Vorbereitung dazu Und so kann jemand, dem die Thätigkeit der Hochherzigkeit nicht zukommt den entsprechenden Zustand haben, kraft dessen er vorbereitet ist für eine solche Thätigkeit, wenn sie ihm nach seinem Stande gebühren sollte. III. Die körperlichen Bewegungen gestalten sich verschieden je nach den verschiedenen Auffassungen und Hinneigungen der Seele. Und danach begleiten die Hochherzigkeit gewisse bestimmte äußere Zuthaten mit Rücksicht auf die körperlichen Bewegungen. Die Schnelligkeit der Bewegung nämlich kommt daher, daß jemand auf Vieles seine Meinung gerichtet hat, was er eilig zu verwirklichen sucht. Der hochherzige aber hält seine Absicht nur auf Großes gerichtet und somit auf Weniges; da dies selbstverständlich aber große Aufmerksamkeit verlangt, so ist seine Bewegung eine langsame. Ähnlicherweise kommt die helle Stimme und die Schnelligkeit im Sprechen jenen zu, welche über alles Mögliche streiten wollen. Das aber ist nicht Sache der hochherzigen, die nur in Großes sich hineinmischen. Und weil nun solche natürliche Bewegungen den hochherzigen gemäß den Hinneigungen derselben innewohnen, so finden sich dergleichen natürliche Eigenheiten auch in jenen, welche eine natürliche Anlage zur Hochherzigkeit haben. IV. Im Menschen findet sich etwas Großes, was er als Geschenk Gottes besitzt; — und es findet sich da mancher Mangel, der infolge der Schwäche seiner Natur ihm innewohnt. Die Hochherzigkeit nun bewirkt, daß der Mensch sich großer Dinge für wert hält in Anbetracht der Gaben, die er von Gott empfangen; wie z. B., wenn er eine große Tugend in der Seele hat, die Hochherzigkeit macht, daß er nach den im höchsten Grade vollendeten Werken oder Thätigkeiten dieser Tugend strebt; und dasselbe gilt vom Gebrauche eines jeden beliebigen anderen Gutes, wie der Wissenschaft, des zeitlichen Besitzes. Die Demut aber bewirkt, daß der Mensch sich selbst geringschätzt in Anbetracht der eigenen Mängel. Ebenso verachtet die Hochherzigkeit andere, insofern sie abfallen von den Gaben Gottes; denn sie schätzt die anderen nicht in der Weise, daß sie um derentwillen etwas Ungeziemendes thun möchte. Und umgekehrt ehrt die Demut die anderen als ihre Vorgesetzten, insoweit sie in ihnen etwas von den Gaben Gottes erblickt. Deshalb heißt es Ps. 14. vom gerechten Manne: „Zu nichts ist geworden vor ihm der böswillige,“ was zur Verachtung seitens des hochherzigen gehört; und: „die aber Gott fürchten, ehrt und verherrlicht er,“ was zur Ehre gehört, die der demütige erweist. Also ist danach offenbar, wie die Hochherzigkeit und die Demut in keinem Gegensatze zu einander stehen, obgleich sie auf einander Entgegengesetztes hinzuzielen scheinen; denn jede von beiden Tugenden geht von verschiedenen Anschauungen aus. V. Jene Eigenheiten, soweit sie auf den hochherzigen sich beziehen, sind nicht tadelnswert, sondern im Übermaße lobenswert: 1. Daß der hochherzige der empfangenen Wohlthaten nicht gedenkt, will sagen, es sei für ihn keine Freude, von anderen Wohlthaten zu empfangen, ohne daß er mit größeren wiedervergilt; was zur vollendeten Dankbarkeit gehört, in deren Akte er, wie in allen Tugendakten, das Höchste leisten will. 2. Er ist langsam und scheint müßig zu sein; nicht als ob er nicht thätig sei, sondern weil er nicht mit vielerlei, sondern nur mit Großem sich beschäftigt, was Nachdenken verlangt, wie sich das für ihn gebührt. 3. Er bedient sich der Ironie; nicht insoweit sie der Wahrheit entgegengesetzt ist, daß er nämlich von sich Erniedrigendes sagte, was nicht in Wirklichkeit besteht, oder bedeutende Vorzüge von sich ableugnete, welche in Wirklichkeit bestehen; — sondern weil er nicht seine ganze Größe offenbar macht und zumal nichtvor einer großen Menge solcher, die tiefer stehen: „Als groß soll der hochherzige dastehen mit Rücksicht auf die hochgestellten und reichen; mit Rücksicht auf die tieferstehenden aber als maßvoll gering.“ (4 Ethic. 3.) 4. Er lebt nicht gern mit anderen zusammen, nämlich in vertraulicher Weise. Das thut er nur mit seinen Freunden, damit er Schmeichelei vermeide und Verstellung, was einen niedrigen Geist verrät. Er lebt aber mit allen, ob sie groß oder klein seien, zusammen, wie es sich mit Rücksicht auf einen jeden gebührt. 5. Er will vielmehr Unfruchtbares; aber nicht alles Beliebige, sondern Ehrbares, was er das Größere dem Nützlichen vorzieht, da Letzteres gesucht wird, um einem Mangel abzuhelfen, der zum hochherzigen als solchem im Gegensatze steht.
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