Sechster Artikel. Der Stolz ist die schwerste Sünde.
a) Er ist nicht die schwerste der Sünden. Denn: I. Eine Sünde ist um so leichter, je schwieriger es ist, sie zu vermeiden. Den Stolz aber zu vermeiden ist äußerst schwer. „Denn,“ sagt Augustin, „die übrigen Sünden bedürfen schlechter Werke, damit sie geschehen; der Stolz aber stellt auch den guten Werken nach, damit sie zu Grunde gehen.“ (Regula.) II. Das größte Übel steht dem größten Gute gegenüber.“ (8 Ethic. 10.) Die Demut aber ist nicht die größte Tugend. Also ist der Stolz nicht die größte Sünde; sondern das ist der Unglaube, die Verzweiflung, der Haß Gottes etc. III. Das größere Übel wird nicht bestraft durch ein geringeres. Der Stolz aber wird zuweilen bestraft durch andere Sünden, nach Röm. 1., wonach die Philosophen auf Grund des Stolzes „überlassen worden sind dem Widersinne, daß sie thun was nicht zukömmlich ist.“ Also ist der Stolz nicht die schwerste Sünde. Auf der anderen Seite sagt die Glosse zu Ps. 118. (Superbi inique): „Die größte Sünde im Menschen ist der Stolz.“
b) Ich antworte, von seiten der Zuwendung zu einem vergänglichen Gute habe der Stolz es nicht an sich, die größte Sünde zu sein; denn de Vorrang, nach dem der stolze ungeregelterweise strebt, schließt nicht den größten Widerspruch mit dem Gute der Tugend ein. Von seiten der Abwendung aber vom höchsten Gute hat der Stolz den Charakter der schwersten Sünde. Denn nicht aus Unkenntnis oder aus Schwäche oder aus Verlangen nach einem anderen Gute wendet sich der stolze von Gott ab, sondern weil er Gottes Regel nicht untergeben sein will. Deshalb sagt Boëtius: „Alle anderen Sünden fliehen vor Gott, der Stolz allein stellt sich Ihm entgegen,“ weshalb auch (Jakob. 4.) „Gott den stolzen widersteht.' Das Abwenden von Gott und seinen Geboten, was bei den anderen Sünden wie eine Folge aus ihnen ist, gehört also zum innersten Wesen des Stolzes, dessen Thätigkeit ist: die Verachtung Gottes. Und weil jegliches Ding gemäß seinem inneren Wesen beurteilt wird und nicht nach dem daraus irgendwie Folgenden, so ist schlechthin in seiner „Art“ betrachtet der Stolz die schwerste Sünde; denn er überragt alle Sünden in der Abkehr von Gott und somit im Wesentlichen der Sünde.
c) I. Wird die Schwierigkeit, eine Sünde zu vermeiden, verursacht durch den heftigen Antrieb, wie beim Zorne und noch mehr bei der Begierde, so vermindert dies die Schwere der Sünde; und um so schwerer sündigt nach Augustin, wer einer leichteren Versuchung nachgiebt. Dann aber ist noch eine Sünde schwer zu meiden, weil sie verborgen ist; und das trifft beim Stolze zu, der vom Guten selbst Gelegenheit zu seiner Thätigkeit nimmt. Deshalb sagt Augustin treffend (I. c.): „Er stellt nach den guten Werken;“ und Ps. 141. heißt es: „Auf diesem Wege, den ich wandelte, verbargen die stolzen mir ihre Fallstricke.“ Danach nun hat eine solche verborgen hervorbrechende Bewegung des Stolzes nicht den Charakter der größten Schwere, ehe sie durch das Urteil der Vernunft erfaßt wird. Ist sie aber erfaßt, dann ist es leicht, sie zu vermeiden; indem man die eigene Schwäche sich vorstellt, nach Ekkli. 10.: „Was bist du stolz, Staub und Asche;“ und ferner indem man die Größe Gottes erwägt, nach Job 15.: „Was bläst dein Geist sich auf gegen Gott;“ und ebenso indem man betrachtet, wie unvollkommen das Gute ist, dessen der Mensch sich rühmt, nach Isai. 40.: „Alles Fleisch ist Heu und alle seine Herrlichkeit wie eine Blume des Feldes;“ und 64.: „Wie ein schmutziges Tuch ist all unsere Gerechtigkeit.“ II. Der Gegensatz der entgegenstehenden Tugend wird bemessen nach dem Gegenstande, zu dem man sich wendet; und mit Rücksicht auf die Zuwendung zu einem vergänglichen Gute ist der Stolz nicht die schwerste Sünde. Aber von seiten der Abkehr von Gott ist er die schwerste Sünde. Denn er giebt den anderen Sünden den Grad ihrer Schwere; insofern nämlich die Sünde des Unglaubens selber eine schwerere wird, wenn sie aus der Verachtung des Stolzes hervorgeht als wenn ihr Ursprung Unkenntnis oder Schwäche ist. Und dasselbe gilt von der Verzweiflung. III. Gleichwie manche logische Schlüsse dadurch überzeugen, daß sie zum Unmöglichen führen; so straft Gott den Stolz mancher Menschen, um sie von demselben zu überzeugen und ihn offen vorzulegen, dadurch daß er zuläßt, daß sie in fleischliche Sünden stürzen. Denn diese Sünden sind zwar an sich geringer; aber ihre Schande ist offenbarer. Deshalb sagt Isidor (2. de summo Bono 38.): „Schlechter als jede andere Sünde ist der Stolz; sei es deshalb weil auch die höchsten und ersten Personen davon befallen werden, sei es daß er vom gerechten und tugendhaften Werke sogar entspringt und seine Schuld weniger gefühlt wird. Die Wollust aber ist gleich als Sünde offenbar für alle, denn sie ist an sich schändlich; und doch ist sie eine geringere Schuld wie der Stolz. Wer aber den Stolz in sich hat und ihn nicht fühlt; der fällt in Fleischessünden, damit er gedemütigt von seiner Schande sich erhebe.“ Wie ein weiser Arzt, um eine schwerere Krankheit zu heilen, zuläßt, daß der kranke in eine leichtere falle; so wird dadurch selber der Stolz als eine schwerere Sünde dargethan, weil Gott, um ihn zu heilen, es erlaubt, daß die Menschen in andere Sünden fallen.
