Fünfter Artikel. Die Ordensleute und Bischöfe sind im Stande der Vollkommenheit.
a) Dem steht entgegen: I. Der Stand der Vollkommenheit steht neben dem Stande der anfangenden und fortschreitenden. Es giebt aber keine bestimmten Arten von Menschen, die in besonderer Weise dem Stande der anfangenden und fortfchreitenden zugezählt würden. Also darf man auch nicht bestimmte Arten von Menschen dem Stande der Vollkommenheit zuzählen. II. Das Äußere muß dem Inneren entsprechen; sonst ist eine Lüge da, insofern „eine solche nicht bloß in falschen Worten, sondern auch in geheuchelten Werken besteht,“ nach Ambrosius. (44. sermo de Temp.) Viele Bischöfe und Ordensleute aber haben innerlich keine vollkommene Liebe. Also sind solche, falls sie im Stande der Vollkommenheit sich befinden, Heuchler und Lügner und somit in schwerer Sünde. III. Die Vollkommenheit bemißt sich nach der heiligen Liebe. Die vollkommenste Liebe aber findet sich in den Märtyrern (Joh. 15, 13.), von denen die Glosse zu Hebr. 12. (nondumusque ad sanguinem) sagt: „Eine vollkommenere Liebe besteht nicht wie die in den Märtyrern, welche bis aufs Blut gegen die Sünde stritten.“ (Aug. serm. 17. de verb. apost. cap. 1.) Also sind die Märtyrer und nicht andere im Stande der Vollkommenheit. Auf der anderen Seite schreibt Dionysius (eccl. hier. cap. 5.) den Bischöfen als den vollkommeneren die Vollkommenheit zu; und cap. 6. schreibt er die Vollkommenheit den Ordensleuten zu, die er μόναχοι nennt oder θεραπεύτας, nämlich Gott dienende.
b) Ich antworte, sowohl den Bischöfen wie den Ordensleuten komme die Verpflichtung zur Vollkommenheit zu und zwar eine mit besonderer Feierlichkeit eingegangene. Denn die Ordensleute entsagen durch Gelübde gewissen weltlichen Dingen, deren Gebrauch sonst erlaubt ist, damit sie mehr Muße für die Betrachtung und den Dienst Gottes gewinnen; worin die Vollkommenheit des Lebens besteht. Deshalb sagt Dionysius, von den Ordensleuten sprechend: „Die einen nennen sie Diener Gottes (θεραπεύτας) auf Grund des reinen unvermischten Dienstes Gottes; die anderen nennen sie Mönche (μόναχοι) auf Grund des unteilbaren und einzigen, nämlich von den anderen geschiedenen Lebens, das sie infolge heiliger Betrachtungen des Unteilbaren mit der göttähnlichen Einheit und von Gott geliebten Vollkommenheit vereint.“ Deren Verpflichtung zu solchem Leben geschieht durch die Feierlichkeit des Einsegnens und der Profeß: „Deshalb schenkt ihnen die heilige Gesetzgebung vollendete Gnade und würdigt sie einer gewissen heiligenden Anrufung.“ Die Bischöfe verpflichten sich ebenso zu dem, was der Vollkommenheit entspricht; indem sie das Hirtenamt übernehmen, dessen Pflicht es ist, „daß der Herr sein Leben giebt für seine Lämmer.“ (Joh. 10, 15.) Und zu den Worten des Apostels 1. Tim. ult.: „Ein gutes Bekenntnis hast du abgelegt vor vielen Zeugen“ bemerkt die Glosse: „in seiner Bischofsweihe.“ Es besteht auch da also eine gewisse Feierlichkeit der Weihe, nach 2. Tim. 1.: „Erwecke die Gnade Gottes, welche in dir sich findet kraft der Auflegung meiner Hände.“ Und Dionysius sagt (eccl. hier. 5.): „Der Hohepriester (d. i. der Bischof) bekommt bei seiner Weihe die heilige Schrift aufs Haupt gelegt in heiligster Weihe; damit dadurch bezeichnet werde, er nehme an der ganzen Kraft der heiligen Herrschaft teil und er sei nicht allein dazu bestimmt, alle zu erleuchten durch heilige Reden und Handlungen), sondern auch, die heilige Gewalt auf andere zu übertragen.“
c) I. Das Anfangen und Fortschreiten wird nicht wegen seiner selbst erstrebt, sondern wegen der Vollendung. Also nur zum Stande der Vollendung werden einzelne Arten Menschen feierlich verpflichtet. II. In den Stand der Vollkommenheit treten Menschen nicht um da mit auszudrücken, sie seien vollkommen, sondern, sie wollen nach Vollkommenheit streben, wie der Apostel sagt (Phil. 3.): „Nicht als ob ich bereits am Ziele wäre oder vollkommen sei, ich folge aber, ob ich nicht irgendwie an das Ziel komme… wer auch immer unter uns vollkommen ist, der sei dieser Ansicht.“ Nur also jener heuchelt oder lügt, der in den Stand der Vollkommenheit eintritt und nicht nach derselben strebt; nicht aber jener, der im Stande der Vollkommenheit wohl sich findet, jedoch thatsächlich noch unvollkommen ist. III. Das Martyrium ist die vollkommenste Thätigkeit der Liebe. Dies genügt aber nicht, um den Stand der Vollkommenheit herzustellen.
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