Erster Artikel. In der Seele Christi war eine zuständliche Gnade.
a) Das scheint nicht. Denn: I. Die Gnade ist eine gewisse Teilnahme an der Gottheit, nach 2 Petr. 1.: „Durch den Er uns die höchsten und kostbaren Verheißungen verlieh, teilzuhaben nämlich an der göttlichen Natur.“ Christus aber ist der Natur und dem Wesen nach in aller Wahrheit Gott. Also war in Ihm keine Gnade. II. Die Gnade dient dazu, 1. um gut zu wirken, nach 1. Kor. 15.: „Mehr als alle habe ich gearbeitet; nicht ich aber, sondern die Gnade Gottes mit mir; 2. um das ewige Leben zu gewinnen, nach Röm. 4.: „Gnade Gottes ist das ewige Leben.“ Christo aber als dem natürlichen Sohne Gottes ward das ewige Leben geschuldet; und weil Er das „Wort“ selber war, durch das Alles gemacht worden, hatte Er bereits dadurch die Gewalt, gut zu handeln. Also bedurfte Er gemäß der menschlichen Natur keiner anderen Gnade. III. Was da wirkt in der Weise eines Werkzeuges, bedarf für die eigenen Thätigkeiten keines vollendenden Zustandes; denn ein solcher hat seinen Sitz im Haupteinwirkenden. Nach Damascenus aber (3. de orth. fide 15.) war die menschliche Natur in Christo wie ein Werkzeug. Also. Auf der anderen Seite heißt es von Christo (Isai. 11.): „Es ruhte auf Ihm der Geist des Herrn,“ der nämlich im Menschen ist kraft der heiligmachenden Gnade (I. Kap. 8, Art. 3.).
b) Ich antworte, es sei notwendig, in Christo einen Gnadenzustand anzunehmen aus drei Gründen: 1. Wegen der Verbindung dieser Seele mit dem „Worte.“ Je näher nämlich ein empfangendes Vermögen der einfließenden Ursache steht, desto mehr nimmt es teil an dieser Ursache. Der Einfluß der Gnade aber ist von Gott, nach Ps. 83.: „Gnade und Herrlichkeit wird Gott geben.“ Also mußte jene Seele am meisten den Einfluß der Gnade in sich aufnehmen. — 2. Wegen des Adels dieser Seele, deren Thätigsein am allernächsten durch Erkennen und Lieben Gott erreichen mußte; wozu die Erhebung der Natur durch die Gnade erforderlich ist. — 3. Wegen der Beziehung Christi zum Menschengeschlechte. Denn da Christus „der Mittler ist zwischen Gott und den Menschen“ (1. Tim. 2.), mußte seine Gnade in andere überfließen, nach Joh. 1, 16.
c) I. In Christo, der da wahrer Gott in Person und in der göttlichen Natur ist, bleibt der Unterschied der Naturen. Also mußte seine Seele an Gott teilnehmen auf Grund der Gnade. II. Das Gesagte gilt von Christo als dem Worte Gottes, durch welches der Vater Sich selbst kennt und liebt; welcher Thätigkeit die Seele nicht fähig ist wegen der Verschiedenheit der Naturen. Das geschaffene Schauen Gottes aber beruht auf der Gnade. Und ebenso ist in Christo zu unterscheiden das menschliche Handeln vom göttlichen. III. Die Menschheit Christi ist allerdings ein Werkzeug; aber kein totes, das in nichts selbstthätig ist, sondern ein beseeltes, das so als Werkzeug dient, daß es auch selber handelnd eintritt und danach, um vollendetes Handeln zu haben, eines Gnadenzustandes bedarf.
