Achter Artikel. In Christo war der Geist der Weissagung.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Die prophetische Kenntnis schließt Dunkel und Unvollendung in sich ein, nach Num. 12.: „Wenn ein Prophet unter euch ist, so will ich im Traume und im Gesichte ihm sprechen.“ Christus aber hatte eine weit klarere Kenntnis wie Moses, von dem gesagt ist, „daß offen und ohne Rätsel der Herr zu Ihm sprach.“ Also hatte Christus nicht den Geist der Weissagung. II. Wie der Glaube das Nicht-Geschaute, die Hoffnung das Nicht- Besessene, so hat die Prophetie zum Gegenstände das Nicht-Gegenwärtige. Denn „Weissagen“ heißt: „was noch weit entfernt ist sagen.“ In Christo aber war weder Glaube noch Hoffnung; also auch nicht die Weissagung. III. Der Prophet steht niedriger wie ein Engel; weshalb auch von Moses, dem ersten der Propheten, geschrieben steht (Act. 7.), „er habe in der Wüste mit einem Engel gesprochen.“ Christus aber steht mit seiner Seele nicht niedriger wie die Engel, sondern nur gemäß dem Leiden seines Körpers. Also war Er nicht Prophet.
b) Ich antworte, „Weissagen“ heiße: „in die Weite sagen,“ oder was noch weit entfernt ist sagen (Aug. cont. Faustum 16, 18.). Hier ist jedoch zu bemerken, daß nicht deshalb jemand Prophet genannt wird, weil er erkennt und verkündet das, was für andere weit entfernt ist, mit denen er nicht zusammen ist. Dies ist klar, wenn Zeit und Ort in Frage kommen. Denn wenn jemand in Frankreich denen die in Frankreich sind verkündete was gegenwärtig in Syrien geschieht, so wäre dies prophetisch; wie Elisäus (4. Kön. 3.) dem Giezi sagte, der Mann sei vom Wagen gestiegen und sei ihm entgegen gegangen. Wenn aber jemand in Syrien denen in Frankreich schreibt, was in Syrien vorgeht, so ist dies nicht prophetisch. Und ebenso war es prophetisch, wie Isaias (c. 44.) verkündete, daß Cyrus, der König der Perser, den Tempel wieder aufbauen werde. Nicht aber war dasselbe prophetisch, als Esdras dies beschrieb, zu dessen Zeit es geschah. Wenn also Gott oder die Engel oder die seligen verkünden und erkennen das, was fern ist von unserer Kenntnis, das ist nicht prophetisch; denn sie sind nicht mit uns, sie nehmen nicht an unserem Stande des Pilgers auf Erden teil. Christus aber war mit uns, Er nahm an unserem Stande teil. Er war nicht nur selig, sondern zugleich Pilger. Und sonach war es prophetisch, was Er Entferntes von der Kenntnis der anderen Erdenpilger erkannte und verkündete. Und danach fand sich in Ihm Weissagung.
c) I. Durch diese Worte wird nicht gesagt, es gehöre zum Wesenscharakter der Weissagung, daß die Kenntnis in ihr durch Träume und Rätsel vermittelt werde; sondern es wird gezeigt der Unterschied zwischen den anderen Propheten, die durch Träume und Rätsel schauten, und dem Moses, zu dem der Herr offen und ohne Rätsel sprach, weshalb es ja Deut. ult. heißt: „Es erstand kein Prophet mehr wie Moses.“ Es kann jedoch auch gesagt werden, Christus habe offene, schauende Kenntnis gehabt mit Rücksicht auf die Vernunft; während in seiner Einbildungstraft sich Ähnlichkeiten der Wahrheit in Phantasiebildern fanden, vermittelst deren ebenfalls das Göttliche betrachtet werden konnte. Denn Er war zugleich Erdenpilger und Bewohner des ewigen Heim. II. Der Glaube erstreckt sich auf das, was vom glaubenden selber nicht gesehen wird; die Hoffnung auf das, was der hoffende selber nicht besitzt. Die Weissagung aber richtet sich auf das, was dem gemeinen Sinne nach den Menschen fern ist, mit denen jedoch der Prophet verkehrt und das Pilgern auf Erden gemein hat. Der Glaube und die Hoffnung also widerstreiten der Vollendung der Seligkeit Christi, nicht aber die Weissagung. III. Der Engel als in der Seligkeit befindlich steht über dem Propheten, der pilgert; nicht aber über Christo, der zugleich selig ist und pilgert.
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