Zweiter Artikel. In Christo waren Tugenden.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. In Christo war überfließende Gnade, die dazu genügt, um Alles gut zu thun, nach 2. Kor. 12.: „Es genüge Dir meine Gnade.“ II. Nach 7 Ethic. 1. steht die Tugend gegenüber einem höheren, von Gott kommenden heroischen Zustande, der den „göttlichen“, heroischen Menschen zukommt. Ein solcher aber war Christus. Also hatte Er keine Tugenden. III. Alle Tugenden werden (II., II. Kap. 65, Art. 1 u. 3.) zugleich besessen. Christo aber kam es nicht zu, alle Tugenden zu haben; wie Er z. B. nicht hatte Freigebigkeit und Prachtliebe, welche den Gebrauch des Reichtums regeln, denn Christus hatte keine Reichtümer, nach Matth. 8.: „Der Menschensohn hat nicht, wohin Er sein Haupt lege.“ Ebenso beziehen sich die Mäßigkeit und Enthaltsamkeit auf die schlechten Begierlichkeiten, die in Christo nicht waren. Also hatte Christus keine Tugenden. Auf der anderen Seite heißt es in der Glosse (Kassiodor) zu Ps. 1. (sed in lege Domini voluntas ejus): „Hier wird gezeigt, wie Christus voll war von allem Guten.“ Eine gute Eigenschaft des Geistes aber ist die Tugend. Also hatte Christus in Fülle alle Tugenden.
b) Ich antworte, wie die Gnade auf das Wesen, so beziehe sich die Tugend auf die Vermögen der Seele. Wie also die Vermögen sich ableiten vom Wesen der Seele, so die Tugenden von der Gnade. Je vollendeter aber ein Princip ist, desto vollendeter prägt es seine Wirkungen ein. Da also die Gnade in höchst vollendeter Weise in Christo bestand, so flössen von ihr in alle Vermögen in höchst vollendeter Weise die Tugenden für alle Thätigkeiten der Seele. Also hatte Christus alle Tugenden.
c) I. Die Gnade genügt dem Menschen für Alles, wodurch er hingeordnet wird zur Seligkeit. Von diesem nun vollendet Manches die Gnade unmittelbar für sich allein, wie: Gott wohlgefällig machen u. dgl.; Manches vollendet sie mittels der Tugenden, die von der Gnade ausgehen. II. Jener heroische Zustand ist nur ein vollkommenerer Grad der Tugend, insoweit er nämlich in höherer Weise eine Verfassung in sich hat zum Guten hin wie die übrigen Menschen. Christus also hatte die Tugenden — dies geht aus dem Einwande hervor — in höchst vollendeter Weise; wie auch Plotinus annahm eine gewisse erhabene Art und Weise des Inneseins der Tugend; nach welcher er die Seele als die gereinigte bezeichnte (Macrobius I. somn. Scip. 8.). III. Freigebigkeit und Prachtliebe sind Tugenden, insoweit jemand nicht den Reichtum hochschätzt daß er ihn behalten will, obgleich es nötig wäre, sich von demselben zu trennen. Mehr aber noch ist erhaben in der richtigen Wertschätzung des Reichtumes jener, der aus Liebe zur Vollkommenheit ihn ganz verachtet und von sich weist. Da also Christus allen Reichtum auf das Vollkommenste verachtet hat, hält Er den höchsten Grad in den beiden genannten Tugenden inne. Trotzdem hat Er auch dem Akte nach die Freigebigkeit geübt, insofern Er von den Ihm dargebotenen Almosen verteilte. Als demgemäß der Herr dem Judas (Joh. 15.) sagte: „Was Du thun willst, das thue schnell;“ so verstanden dies die Jünger dahin, er solle den armen geben. Schlechte Begierden nun hatte der Herr allerdings nicht im geringsten Grade; deshalb aber wird von Ihm nicht die Tugend der Mäßigkeit ausgeschlossen, die ja um so vollendeter im Menschen ist, je mehr er schlechter Begierlichkeiten ermangelt. Darum unterscheidet Aristoteles (7 Ethic. 9.) den mäßigen vom enthaltsamen, weil jener schlechte Begierlichkeiten nicht hat, denen dieser zugänglich ist und die er bekämpft. Danach hatte der Herr also nicht die Enthaltsamkeit, die danach keine wirkliche Tugend ist, sondern etwas tiefer steht als die Tugend.
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