Neunter Artikel. In Christo war die Fülle der Gnade.
a) Dem steht entgegen: I. Von der Gnade fließen aus die Tugenden. Nicht aber waren in Christo alle Tugenden, wie z. B. der Glaube, und die Hoffnung. Also hatte Er nicht die Fülle der Gnade. II. Die Gnade wird geteilt in die „wirkende“ und „mitwirkende“ (I.) II. Kap. 111, Art. 2.). Die „wirkende“ Gnade aber war nicht in Christo, da durch sie der Sünder gerecht wird. III. Nach Jakob 1. „steigt alle beste Gabe und alles vollkommeneGeschenkte herab vom Vater der Erleuchtungen.“ Was aber herabsteigt, wird nicht voll besessen, sondern nur zum Teil. Also keine Kreatur, auch nicht die Seele Christi, hat die Fülle der Gnade. Auf der anderen Seite steht Joh. 1. geschrieben von Christo: „Voll der Gnade und Wahrheit.“
b) Ich antworte, in Fülle oder vollauf werde besessen, was ganz und gar und vollkommen besessen wird. Ein solches „Vollkommen“ oder „ganz und gar“ kann aber in zweifacher Weise besessen werden: 1. mit Rücksicht auf den Umfang und dessen Eindringen, wie wenn ich sage, daß jemand vollauf die weiße Farbe habe, wenn er sie hat, soweit er geeignet ist sie zu haben; — 2. mit Rücksicht auf die Kraft und das Vermögen; wie wenn von jemandem gesagt wird, er habe vollauf Leben, wenn er es hat nach allen Wirkungen oder Äußerungen des Lebens. In jeder von beiden Weisen hatte Christus die Fülle der Gnade. Denn Er hatte dieselbe 1. im höchsten Grade, soweit nur immer sie besessen werden kann, und in der vollkommensten Weise. Das geht hervor zuvörderst aus der Nähe der Seele Christi bei der Ursache der Gnade, infolge dessen sie um so überfließender die Gnade empfing, je unmittelbarer sie mit der sie wirkenden Ursache verbunden war; und sodann geht dies daraus hervor, daß Christus die Gnade dazu bekam, damit Er sie in andere überfließen lasse, also aus der Wirkung, die mit ihr verbunden war. Da nun von Christo die Gnade überfließen sollte in alle Menschen, so mußte Er sie im höchsten Grade besitzen; wie das Feuer, welches als Ursache des Warmen in allen warmen Gegenständen dasteht, im höchsten Grade warm ist. Christus hatte 2. die Gnade in aller Fülle, soweit es auf die Kraft ankommt; denn Er hatte sie für alle Wirkungen und Äußerungen der Gnade. Dies kommt daher, weil Er die Gnade besaß wie ein allen gemeinsames Princip im Bereiche derer, die Gnade haben. Eines solchen Princips Kraft aber erstreckt sich auf alle Wirkungen im betreffenden Bereiche; wie die Kraft der Sonne sich erstreckt auf alle Wirkungen im Bereiche dessen, was dem Entstehen und Vergehen vom eigenen Innern aus unterworfen ist (Dionysius 4. de div. nom.). Und so hatte Christus die Fülle der Gnade, insofern von Ihm ausfließen alle Wirkungen der Gnade, wie die Tugenden, die Gaben und Ähnliches.
c) I. Der Glaube und die Hoffnung sind Wirkungen mit einem gewissen Mangel von seiten des empfangenden, insoweit dieser nicht „schaut“ und nicht „besitzt“. Also durften sie in Christo, der die Fülle und den Quell der Gnade besitzt, nicht sich finden. Was aber an Vollendung sich findet in diesen zwei Tugenden, das ist im vollendeten Grade in Christo. So hat auch das Feuer nicht in sich die mangelhaften Arten von Wärme, wie solche vom Mangel des die Wärme aufnehmenden Gegenstandes oder Subjektes kommen; sondern was an Vollendung in der Wärme ist. II. Die Gnade an sich macht gerecht. Daß sie aber aus dem Sünder einen gerechten macht, das ist ihr äußerlich; das steht nämlich auf seiten des Mangels in dem, der die Gnade empfängt. Die Seele Christi also hatte die wirkende Gnade, insoweit sie gerecht und heilig macht; nicht insoweit eine Sünde vorherging. III. Die Fülle der Gnade ist in Christo gemäß der Fähigkeit der Kreatur, nicht mit Rücksicht auf die ungemessene Fülle der göttlichen Güte.
