Zehnter Artikel. Die Fülle der Gnade war in Christo in einer Ihm allein eigenen Weise.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. „Voll der Gnade“ sein wird der seligsten Jungfrau nach Luk. 1. ebenfalls zugeschrieben; und desgleichen dem heiligen Stephanus in Act. 6, 8.: „voll der Gnade und Stärke“. II. Christus kann die Fülle der Gnade mitteilen, nach Ephes. 3.: „Damit ihr angefüllt werdet gemäß aller Fülle Gottes.“ Was aber so mitgeteilt werden kann, das ist nicht in besonderer Weise Christo eigen. III. Im Himmel wird jeder selige die Fülle alles Guten haben, nach Gregor (hom. 34.): „In jenem himmlischen Heim, wo die Fülle alles Guten sein wird, wird nichts besessen in solcher Weise, daß der besitzende allein sich daran freut; wenn auch die seligen Gaben manche in hervorragender Weise besitzen.“ Dem Himmel aber muß der Stand hier auf Erden entsprechen. Also ist hier die Fülle der Gnade noch in anderen als in Christo. Auf der anderen Seite wird Joh. 1, 14. die Fülle der Gnade Christo zugeschrieben „wie dem Eingeborenen des Vaters.“ Eingeborener des Vaters zu sein aber ist Christo allein eigen.
b) Ich antworte, es komme hier in Betracht 1. die Gnade und 2. der, welcher die Gnade hat. Von seiten der Gnade wird von einer Fülle gesprochen bei jenem, der den höchsten Grad der Gnade erreicht sowohl mit Rücksicht auf das Wesen wie auf die enthaltene Kraft; weil er nämlich die Gnade sowohl im hervorragendsten Maße besitzt, in welchem sie überhaupt besessen werden kann, und weil Er sie besitzt im höchsten Grade d. h. für alle Wirkungen. Und solche Fülle der Gnade ist allein Christo eigen. Von seiten dessen, der die Gnade hat, wird von einer Gnadenfülle gesprochen, wenn jemand gemäß seinem Berufe oder seiner Beschaffenheit die Gnade vollauf hat; sei es gemäß der Ausdehnung, soweit in ihm die Gnade bis zu dem von Gott vorherbestimmten Abschlüsse reicht, nach Ephef. 4.: „Jedem von uns ist die Gnade gegeben nach dem von Christo abgemessenen Maße der Gabe,“ sei es gemäß der Kraft, insoweit er die Gnade hat für alle Wirkungen, die mit seinem Stande zusammenhängen, nach Ephes. 3.: „Mir, dem geringsten von allen heiligen, ist gegeben diese Gnade, zu erleuchten alle …“ Solche Gnadenfülle wird von Christo anderen mitgeteilt.
c) I. Die seligste Jungfrau wird „voll der Gnade“ genannt, nicht in der erstgenannten Weise; denn sie hatte solche nicht in hervorragendstem Grade und nicht für alle Wirkungen; — vielmehr sagt dies der Engel, weil sie mit Rücksicht auf ihren Stand als Mutter des Eingeborenen hinreichende Gnade vollauf besaß. Und ähnlich hatte Stephanus dafür, wozu er von Gott erwählt worden, die Fülle der Gnade, nämlich als Zeuge der Wahrheit. Es kann da aber die eine Gnadenfülle größer sein wie die andere, insoweit der eine zu etwas Höherem erwählt ist wie der andere. II. Von dieser letzten Art Gnadenfülle spricht auch der Apostel. Danach also ist solche Gnadenfülle allen heiligen gemeinsam, daß sie nämlich jenach dem ihnen vorherbestimmten Stande die hinreichende Gnade besitzen, in das ewige Leben zu gelangen, welches im vollen Genießen der Anschauung Gottes besteht. Solche Fülle wünscht der Apostel den gläubigen, welchen er schreibt. III. Jenen Gaben, welche allen im himmlischen Heim gemeinsam sind, nämlich das Anschauen, Ergreifen, Genießen und ähnliche entsprechen einzelne Gaben hier auf Erden, welche ebenfalls gemeinsam sind allen heiligen. Es giebt jedoch manche Vorrechte einzelner heiliger im Himmel und auf Erden, welche nicht allen gemeinsam sind.
