Zwölfter Artikel. Die Gnade Christi konnte nicht vermehrt werden.
a) Dies scheint aber. Denn: I. Die Gnade Christi ist endlich. Also kann dazu hinzugefügt werden. II. Die Vermehrung der Gnade geschieht kraft der Macht Gottes, nach 2. Kor. 9.: „Gott ist mächtig, alle Gnade in euch überfließen zu lassen.“ Gottes Macht aber ist an keinen Abschlußpunkt gebunden. III. Luk. 2. heißt es: „Der Knabe Jesus schritt fort in der Gnade und Weisheit.“ Auf der anderen Seite heißt es Joh. 1, 14.: „Wir haben Ihn gesehen als den Eingeborenen des Vaters voll der Gnade und Wahrheit.“ Nichts aber kann Größeres gedacht werden, wie der Eingeborene des Vaters zu sein. Also kann eine größere Gnade nicht aufgefaßt werden als jene, deren Christus voll war.
b) Ich antworte, irgend welche Form lasse ein Mehrwerden zu entweder auf Grund ihrer selbst oder auf Grund des an ihr teilhabenden Trägers oder Subjekts. Von seiten des Subjekts oder des Trägers kann eine Form nicht mehr oder größer werden, wenn dieses Subjekt im höchsten Grade, dessen es fähig ist, bereits an der besagten Form teilgenommen hat; wie die Luft nicht mehr wärmer werden kann, wenn sie den höchsten Grad in der Wärme erreicht hat, obgleich eine größere Wärme es sonst geben kann, nämlich die des Feuers. Von seiten der Form oder der betreffenden Vollendung selber wird ein Mehrwerden ausgeschlossen, wenn das entsprechende Subjekt oder der Träger den höchsten Grad erreicht hat, welchen diese Form in der Natur haben kann; wie wenn wir z. B.sagen, die Wärme des Feuers könne nicht eine höhere werden, weil eine vollendetere Wärme wie die des Feuers es nicht geben kann. Wie nun für jede geschöpfliche Vollendung oder Form von der göttlichen Weisheit ein gewisses bestimmtes Maß vorgesehen ist, nach Sap. 2, 21., so auch für die Gnade. Ein solches Maß aber wird bestimmt mit Rücksicht auf den Zweck. Da nun der Zweck der Gnade die Einigung mit Gott ist, eine größere Einigung aber es nicht geben kann wie die mit Gott in Person; so war die Gnade Christi von Anfang an im höchstmöglichen Grade im Herrn. Jedoch auch von seiten des Trägers oder Subjekts, nicht nur von seiten der Gnade in sich, nämlich von seiten der Seele Christi, die an der Gnade teilnimmt, ist ein Mehrwerden nicht möglich; weil Christus im ersten Augenblicke seiner Empfängnis die Seligkeit bereits voll und ganz besaß, in keinem seligen aber die Gnade vermehrt werden kann. In den noch pilgernden Menschen dagegen kann die Gnade vermehrt werden, sowohl von seiten der Gnade selber aus als der bestimmenden Form des übernatürlichen Lebens, weil sie nicht den höchsten Grad darin besitzen; sowie von seiten des Subjekts, weil sie noch nicht zum Abschlußpunkte gelangt sind.
c) I. In den mathematischen Größen freilich kann ohne Ende ein Hinzufügen stattfinden; nicht aber ist dies der Fall mit dem Umfange der Dinge in ihrem natürlichen Bestände. Da kann ganz wohl ein Gegensatz zu einem Mehr sein bereits von seiten der Form selber, welcher ein bestimmter Umfang gebührt wie ja auch bestimmte andere Eigenschaften; nach Arist. 2. de anima, wonach „für jede Natur ein vornherein bestimmter Abschluß in dem Umfange und der Vermehrung besteht.“ Demgemäß kann zum Umfange des Ganzen nichts hinzugefügt werden. So verhält es sich also auch mit der Gnade, zu der in Christo, obgleich sie dem Wesen nach etwas Endliches ist, nichts hinzugefügt werden kann. II. Die göttliche Kraft kann zwar etwas Größeres und Besseres machen wie die heiligmachende Gnade Christi. Nicht aber könnte sie machen, daß die Gnade hingeordnet wäre zu etwas Größerem und Besserem, wie dies die persönliche Einigung ist. Dieser Einigung mit dem „Worte“ nun entspricht ein solches bestimmtes Maß der Gnade, gemäß der Anordnung der göttlichen Weisheit. III. Gemäß den inneren Zuständen selber der Weisheit und der Gnade ist Christus nicht fortgeschritten. Aber gemäß den Wirkungen schritt Er fort; indem Er mit dem Fortschritte des Alters vollendetere und weisere Werke machte, damit Er sich als wahren Menschen zeige sowohl in dem, was auf Gott Bezug hat, als in dem, was auf die Menschen sich bezieht.
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