Zehnter Artikel. Auch einem Umstande kann der menschliche Akt seine Wesensstufe als guter oder böser danken.
a) Das Gegenteil wird bewiesen. Denn: I. Die Wesensstufe einer Handlung rührt vom Gegenstande her. Die Umstände aber sind verschieden vom Gegenstande. II. Die Umstände sind wie zum Akte hinzutretende Eigenschaften. Solche Zufälligleiten oder Accidentien aber stellen nicht das entsprechende Wesen her, sondern setzen es voraus. Also. III. Ein und dasselbe Ding hat nicht mehrere Wesensstufen. Ein und derselbe Akt aber hat mehrere Umstände. Also nicht vom Umstande hängt das Wesen des Aktes im Guten oder Bösen ab. Auf der anderen Seite ist der Ort ein Umstand. Stehlen aber an einem heiligen Orte ist ein Sakrilegium. Also stellt manchmal ein Umstand das besondere Wesen des Aktes im Guten oder Bösen her.
b) Ich antworte, daß, wie die Wesensgattungen der Dinge hergestellt werden durch die Wesensformen im Bereiche der Natur, so die Wesensstufen der moralischen Handlungen hergestellt werden durch die Formen, welche die Vernunft aufgefaßt hat. Weil aber die Natur in jedem Dinge auf einen einzigen beschränkten Kreis angewiesen ist und kein Vorgehen ins Endlose im Bereiche der bloßen Natur sein kann, so muß man immer zu einer irgend welchen letztgültig entscheidenden Form gelangen, aus welcher der die entsprechende Gattung herstellende Wesensunterschied entnommen wird; und nach dieser kann kein anderer Wesensunterschied mehr Einfluß haben. Und daher kommt es, daß in den Dingen der Natur das, was einmal für ein Ding von außen hinzutretende Eigenschaft, ein Accidens ist, niemals betrachtet werden kann als ein die Gattungsstufe begründender Wesensunterschied. Das Vorgehen der Vernunft aber ist nicht auf einen beschränkten Kreis angewiesen, sondern was auch immer als gegeben vorausgesetzt wird, darüber kann sie weiter hinaus vorgehen. Und deshalb kann was in dem einen Akte genommen wird als ein jenem Gegenstande hinzugefügter Umstand, der die Wesensstufe bestimmt, das kann von neuem genommen werden von der ordnenden Vernunft als hauptsächliche Bedingung des Gegenstandes, der die Wesensstufe des Aktes bestimmt. So z. B. trägt das Ansichnehmen fremden Eigentums seinen Wesenscharakter auf Grund des „Fremden“. Wird zu dem hinzu der Umstand des Ortes oder der Zeit erwogen, so hältsich dies im Bereiche des Umstandes. Weil aber die Vernunft ihre ordnende Gewalt erstrecken kann auch auf den Ort oder die Zeit oder ähnliche derartige Umstände, so trifft es sich, daß die Bedingung des Ortes mit Rücksicht auf den Gegenstand betrachtet werden kann als der Ordnung der Vernunft zuwiderlaufend. So z. B. ist es gemäß der Ordnung der Vernunft der Fall, daß an geheiligtem Orte kein Unrecht angethan werden soll; und somit fügt der Umstand, daß an geheiligtem Orte fremdes Eigentum genommen wird, einen besonderen Widerspruch gegen die Ordnung der Vernunft hinzu. Und deshalb wird der Ort, der vorher nur als nebensächlicher Umstand betrachtet wurde, jetzt als hauptsächliche Bedingung angesehen, welche am Gegenstande dem Bestimmen der Vernunft zuwiderlauft. In dieser Weise also, so oft ein Umstand in Beziehung steht zu einer besonderen Anordnung der Vernunft, mag dies für oder gegen sein, giebt der Umstand dem moralischen Akte seine Wesensstufe, sei es im Guten sei es im Bösen.
c) I. Der Umstand wird im gegebenen Falle als eine besondere Seinsbedingung am Gegenstande selber betrachtet. II. Insofern ein Umstand etwas Hinzutretendes, also ein Accidens im Akte bleibt, verleiht er nicht die besondere Wesensstufe. Insoweit er jedoch zu einer hauptsächlichen Bedingung am Gegenstande wird, ist dies der Fall. III. Nicht jeder Umstand schließt eine besondere Beziehung zur ordnenden Vernunft ein; also mag auch viele Umstände es geben für den nämlichen Akt, so ist doch damit nicht gesagt, daß dieser Akt auf mehreren Wesensstufen stehe. Jedoch kann auch ein und derselbe moralische Akt auf mehreren Wesensstufen im moralischen Sinne stehen, die zu einander in keinerlei Beziehung stehen. (Kap. 1, Art. 3. ad III.)
